Gegensätze verbinden - denn Radiologie ist Vielfalt
93. Deutscher Röntgenkongress. Der dänische Philosoph Sören Kierkegaard sagte einst: „Es gehört zu den Unvollkommenheiten unseres Wesens, dass wir erst durch den Gegensatz hindurch müssen, um zu erreichen, was wir erstreben.“ Auch das Berufsbild des Radiologen ist heute mehr denn je geprägt von vielen Widersprüchen, Kontrasten und Differenzen.
Das kann man als Chance, als Vielfalt begreifen, manchmal hat es aber auch den Anschein einer unvereinbaren Diskrepanz. Auf jeden Fall machen die Gegensätze deutlich, dass wir uns immer wieder die Frage stellen müssen, wohin wir in unserem Fach eigentlich streben: Wollen wir Kliniker sein? Dienstleister? Generalisten? Technikspezialisten? Organfachleute?
Der Besuch des Abdominalradiologen Prof. Richard L. Baron aus Chicago, der auf dem diesjährigen Kongress die Röntgenvorlesung halten wird, wirft in diese Richtung einige Fragen auf. In den USA sind auf Organe und bestimmte Körperbereiche fokussierte Radiologen weitaus verbreiteter als in jedem anderen Land der Welt. Diese machen den ganzen Tag nichts anderes, als sich mit einem ganz bestimmten Teilgebiet des Körpers zu beschäftigen.
Gedanklich stehen sie damit dem Gastroenterologen oder dem Viszeralchirurgen, für den sie diagnostische Bilder akquirieren, natürlich sehr viel näher als der Allgemeinradiologe. Die großen deutschen Universitätszentren schlagen einen ähnlichen Weg ein. Dort gibt es schon dedizierte Spezialisten für beispielsweise die Kardiovaskuläre Bildgebung oder die Mammadiagnostik. Und auch in den Strukturen der Deutschen Röntgengesellschaft schlägt sich diese Entwicklung nieder: Hier wurden zahlreiche Arbeitsgemeinschaften für die einzelnen Organsysteme gegründet. Eine Entwicklung, die in meinen Augen durchaus Sinn macht, spiegelt sie doch die Wünsche und Bedürfnisse unserer klinischen Kollegen wider und ist etwa in der Kinderradiologie unverzichtbar.
Allerdings sieht die Realität in der Breite der radiologischen Praxen und Krankenhäuser anders aus. Ich spreche aus eigener Erfahrung, wenn ich sage, dass sich dieser organspezifische Ansatz außerhalb der Universitätskliniken unter den derzeitigen Vorgaben nicht leben lässt. Nicht zuletzt deshalb, weil auch in den zuweisenden Kliniken nicht ausschließlich Organfachleute sitzen. So kann ich in meiner Klinik nicht ausnahmslos reine Spezialisten beschäftigen, weil es zum einen nicht genug für sie zu tun gäbe und zum anderen dann das allgemeine Brot-und-Butter-Geschäft nicht bewältigt würde. Diese Tatsachen wiederum führen direkt zu einem anderen organisatorischen Problem, das allzu oft unter den Tisch fällt: Die so hoch geschätzten Organspezialisten, die wir in unseren Teams beschäftigen, glänzen allzu oft durch Abwesenheit im Tagesgeschäft, weil sie auch in den Expertengremien interdisziplinärer Tumorboards gefragte Leute sind.
Wenn wir also nicht in der Lage sind, mehr Stellen zu besetzen, können wir diese extreme Doppelbelastung auf die Dauer nicht durchhalten. Ich denke, Sie werden mir Recht geben, dass hochspezialisierte Radiologen es außerhalb ihres geschützten Wirkungskreises im Universitätsklinikum in der freien Wildbahn häufig schwer haben. Bereits jetzt zeichnet sich ein Ausbildungstrend ab, der sehr zwiespältig zu betrachten ist: Junge Kollegen durchlaufen während der Facharztausbildung an großen universitären Institutionen einzelne Spezialbereiche. Am Ende beherrschen sie ein oder zwei Schwerpunkte sehr gut, von dem Rest haben sie ein Basiswissen. Auch deshalb, weil das Alltagsgeschäft an der Universität hauptsächlich aus hochspezialisierten Anfragen besteht.
Es wird also zunehmend schwieriger an Generalisten heranzukommen, die die Klaviatur unseres Fachs zumindest in den Hauptbereichen von A bis Z spielen können – das aber erfordern die realen Bedingungen in den meisten niedergelassenen Praxen und klinischen Standorten außerhalb des universitären Umfelds. Das diesjährige Kongressprogramm spiegelt all diese beruflichen Gegensätze in mannigfaltiger Weise wider. Diese gilt es zu verbinden – innerhalb und außerhalb unseres Faches. Die Radiologie ist eine Großfamilie, an deren Rändern viele Teilgebiete und Subspezialitäten entstanden sind. Diese Verwandten müssen wieder ins Boot geholt werden und im Bewusstsein von uns allen präsenter werden. Deshalb findet u.a. die Kinderradiologie in diesem Jahr nicht als eigene pädiatrische Veranstaltungsreihe statt, sondern ist in die gesamtradiologischen Sitzungen eingebunden.
Es gibt eine Menge, das man auch als allgemeiner Radiologe über diese Schwerpunktthemen wissen sollte. Auch wird es auch darum gehen, Differenzen zwischen den diagnostisch und den interventionell arbeitenden Radiologen abzubauen. Da muss mehr miteinander gesprochen werden: Was braucht der Interventionalist für Informationen? Was kann ich von einem CT oder MRT erwarten? Das gilt auch für die bildgebenden Fächer außerhalb der Radiologie, weshalb die Nuklearmedizin stärker auf dem Kongress vertreten ist.
Andererseits war es mir wichtig, die Notwendigkeit der interdisziplinären Zusammenarbeit zu zeigen, indem wir viele klinische Kollegen eingeladen haben. So ist es mir ein wesentliches Anliegen, die Radiologen und ihre Auftraggeber intensiver zusammenzubringen, damit sie voneinander lernen können. Der Kliniker muss wissen, was er vom Radiologen erwarten kann und auch was nicht. Andererseits muss der Radiologe lernen, in klinischen Fragestellungen zu denken, um auch die entsprechenden Antworten geben zu können. Ganz in diesem Sinne hat sich auch die Vereinigung Medizinisch-Technischer Berufe in ihrem Fortbildungsprogramm die Interdisziplinarität auf die Fahnen geschrieben und gibt den MRTAs die Gelegenheit, in die Gastroenterologie, Onkologie, Pädiatrie oder Herzbildgebung reinzuschnuppern. Denn auch die Medizintechnischen AssistentInnen müssen ihr organspezifisches Fachwissen stetig vertiefen. Und unsere „Hellsten Köpfe“ betrifft es ohnehin, denn Sie erleben gerade den Anfang einer Entwicklung, die sie später selbst prägend gestalten werden.
Und so könnte, gemäß dem Kongressmotto der Kompromiss der eingangs geschilderten berufspolitischen Entwicklungen der Schlüssel für die Zukunft unseres Fachs nach den derzeitigen gesundheitspolitischen Vorgaben darstellen: das Team der verschiedenen Organspezialisten, das eine breite Generalausbildung genossen hat. Denn alle Fachbereiche kann heute auch der beste Generalist nicht mehr zufriedenstellend als anerkannter Partner der klinischen Kollegen abbilden. Die besten Befunde gibt es immer dort, wo man sich nicht voneinander abkapselt, sondern Hand in Hand zusammenarbeitet.
Die schönste Harmonie entsteht eben durch das Zusammenbringen der Gegensätze. In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen harmonische und diskussionsreiche Kongresstage!
Ihr Prof. Dr. Hermann Helmberger
31.05.2012