Experten-Bilanz zu 20 Jahren EU-Gesundheitsmandat

EHFG: Konferenz “European Public Health 20 years after the Maastricht Treaty”, 22. bis 23. Mai 2013, Maastricht (NL)

Der 1992 unterzeichnete und 1993 in Kraft getretene Vertrag von Maastricht definierte erstmals auch ein Gesundheitsmandat für die Europäische Union.

 Prof. Dr. Helmut Brand
Prof. Dr. Helmut Brand
 Prof. Dr. Helmut Brand
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"Es ging darum, die Gesundheitspolitik in den einzelnen Mitgliedsstaaten zu unterstützen und zu koordinieren“, betonte Prof. Dr. Helmut Brand (Präsident des European Health Form Gastein, Vorstand des Department für Internationale Gesundheit der Universität Maastricht) anlässlich der Tagung „European Public Health: 20 years of the Maastricht Treaty“. Ausgerichtet wird die Tagung von der Universität Maastricht gemeinsam mit dem European Health Forum Gastein (EHFG), dem Maastricht Centre for European Governance, der Europäischen Union sowie der Association of Schools of Public Health in the European Region (ASPHER). „Durch EU-weites Vorgehen hat sich in vielen Bereichen, zum Beispiel der Nahrungsmittelsicherheit, der Infektionskontrolle, dem Nichtraucherschutz oder der Produktsicherheit, der Gesundheitsschutz für mehr als 500 Millionen Bürger/-innen deutlich verbessert“, so der Gastgeber der Tagung Prof. Brand.

Bedeutung des EU-Gesundheitsmandats
„Die Europäische Union hatte vom Tag ihrer Gründung an Kompetenzen, die Gesundheit der Bevölkerung zu beeinflussen, schon frühe Regelungen über den Gemeinsamen Markt beschäftigten sich mit der Koordination des Zugangs zu sozialer Sicherheit und Gesundheit“, so Prof. Scott L. Greer (School of Public Health, Universität Michigan, USA) bei der Tagung in Maastricht. „Eine gemeinsame Politik zur Mobilität von Arbeitnehmern/-innen, zu Agrarsubventionen oder zur Freiheit des Warenverkehrs hat naturgemäß auch Auswirkungen auf die Gesundheit.“ Mit dem Vertrag von Maastricht seien die Kompetenzen auch formell auf den Gesundheitsbereich ausgeweitet worden. Prof. Greer: „Ohne den Vertrag von Maastricht müssten wir uns eine Welt vorstellen, in der es noch weniger Ausgleich zwischen den ökonomischen Aufgaben der EU und ihrer sozialen und gesundheitspolitischen Agenda gäbe.“ Dabei seien jene Aktivitäten, die formal durch das Gesundheitsmandat autorisiert werden, weniger entscheidend als die damit verbundene Botschaft, betonte Prof. Greer, nämlich „dass Gesundheit ein legitimes und auch rechtsverbindliches Ziel der EU-Politik geworden ist.“
Die größte Bedeutung hatte das Gesundheitsmandat vor allem in zwei Bereichen, so Prof. Greer: „Zum einen half es, die Regulierung des Gesundheitswesens in eine sozialere und praxisorientiertere Richtung zu lenken. Ohne das Gesundheitsmandat wäre es schwieriger gewesen zu argumentieren, dass das Gesundheitswesen mehr als ein weiterer geschützter öffentlicher Sektor ist.“ Zum anderen beeinflusste es jene Bereiche, die für die öffentliche Gesundheit ein zunehmendes Problem darstellen, wie Lebensmittelsicherheit oder übertragbare und nicht übertragbare Erkrankungen. „Die wichtigste Errungenschaft war es aber nicht, die Kompetenzen der EU im Bereich der Gesundheit auszudehnen, sondern die Gesundheit zu einer Aufgabe einer starken EU zu machen“, betonte Prof. Greer.
In den vergangenen Jahren habe die EU ihre wirtschaftliche Ordnungspolitik neu ausgerichtet – von einer bloßen Budgetaufsicht hin zu „Anpassungs- und Wirtschafsreformprogrammen“ in Ländern wie Griechenland, Portugal und Irland. „Die gesundheitlichen Auswirkungen dieser Wirtschaftspolitik wurden kaum diskutiert“, so Prof. Greer, „Die Herausforderung für alle, die Gesundheit als ein Ziel der EU erhalten wollen, wird es sein, die Umsetzung dieser neuen Politik zu beeinflussen.“

Aktuelle Studie: EU als relevanter Bezugspunkt in Sachen Public Health
„Die EU hat sich zu einem relevanten Bezugspunkt für Fachleute und Entscheidungsträger/-innen in der europäischen öffentlichen Gesundheit entwickelt“, fasste Prof. Brand die Ergebnisse einer Studie der Universität Maastricht zusammen, in der die Ergebnisse und der Nutzen der EU-Gesundheitspolitik in der Vergangenheit evaluiert wurde. „Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass sich die Auswirkungen der europäischen Gesundheitspolitik nicht nur daran messen lassen, ob EU-Direktiven in nationalem Recht umgesetzt werden. Es gibt auch viel subtilere Einflüsse der EU, die sich praktisch auswirken.“
Die Einrichtung einer eigenen Generaldirektion für Gesundheit, die Infrastruktur der EU-Agenturen für öffentliche Gesundheit und Erfolge im Bereich der Tabakkontrolle wurden in der Studie der Universität Maastricht von den befragten Experten/-innen als Erfolge der europäischen Gesundheitspolitik eingeschätzt. Die Implementierung eines „health in all policies“-Ansatzes hingegen ist nach Ansicht der Studienteilnehmer/-innen nicht gelungen. „Generell ist die Europäische Union ein anerkannter Akteur in der europäischen öffentlichen Gesundheit, der im Lauf der vergangenen 20 Jahre seine Kompetenzen in der Unterstützung, Koordination und Ergänzung der Gesundheitspolitik der Mitgliedsstaaten entwickelt hat“, zitierte Prof. Brand wesentliche Ergebnisse der Untersuchung. „Gesundheitsschutz in anderen Politikbereichen sicherzustellen scheint hingegen eine Aufgabe zu sein, die noch weiterentwickelt werden muss.“

Risiken durch die Wirtschaftskrise
Besondere Herausforderungen ergäben sich für die europäische Gesundheitspolitik und die Weiterentwicklung des EU-Gesundheitsmandats durch die aktuelle Finanz- und Wirtschaftskrise, betonte in Maastricht Prof. Martin McKee (London School of Hygiene & Tropical Medicine): „Die Europäische Union und nationalen Regierungen sind mit der größten Krise in Friedenszeiten seit den 1930er Jahren konfrontiert. Die Frage, die wir uns heute stellen müssen, ist wie und ob überhaupt die Europäische Union die aktuelle Wirtschaftskrise überstehen wird.”
Die europäischen Politiker/-innen müssten verstehen, dass die strikte Sparpolitik sowohl der Wirtschaft als auch der Gesundheit der Bevölkerung schade, so Prof. McKee. „Es wird immer deutlicher, dass die politischen Antworten auf die Krise inadäquat waren und sind. Es gibt eine Alternative zu Sparprogrammen, aber im Moment scheint Ideologie über der wissenschaftlichen Evidenz zu stehen. Nachdem manche nationale Regierungen die Auswirkungen von Sparmaßnahmen auf die Gesundheit ihrer Bürger/-innen nicht evaluiert haben, müssen das die EU-Institutionen tun. Denn auf Basis des Maastricht Vertrages gibt es eine Verpflichtung, in allen Politikfeldern der EU für ein hohes Niveau an Gesundheit zu sorgen. Allerdings sind die menschlichen Kosten des Sparens bisher nicht ausreichend sichtbar gemacht worden.“
Eine wichtige Lehre aus der aktuellen Situation für die künftige Gestaltung der europäischen Gesundheitspolitik, so Prof McKee: „Das Bekenntnis, dass Gesundheitsfragen in allen Politikbereichen berücksichtigt werden müssen, muss ein reales und kein bloß rhetorisches sein.“ Es liege an den nationalen Regierungen und den europäischen Institutionen, wieder vermehrt auf die Bevölkerung zu hören. Man müsse sich der Realität stellen, dass viele Europäer/-innen den Sparprogramme ablehnend gegenüber stehen. “Die EU muss hier eine Führungsrolle dabei einnehmen, die Sorgen der Bürger/-innen erst zu nehmen, ihren Aufschrei zu hören und darauf zu reagieren. Das sollte nicht der innenpolitischen Agenda von Politikern der Mitgliedsstaaten oder den durchaus berechtigten Interessen mächtiger wirtschaftlicher Interessen überlassen bleiben“, so Prof. McKee.

EU-Gesundheitsmandat muss weiter entwickelt werden
„In der Diskussion um die Finanz- und Wirtschaftskrise kommt das Thema Gesundheit viel zu kurz. Aber sie könnte ein ‚window of opportunity’ bieten, auf europäischer wie auf nationaler Ebene Reformen umzusetzen, einschließlich einer Reform des EU-Gesundheitsmandats, die ohne die Krise nicht möglich gewesen wären“, betonte auch EHFG-Präsident Prof. Brand. „Public Health muss die Lösungsstrategien, die zur Bewältigung der Finanz- und Wirtschaftskrise entwickelt werden, mahnend begleiten.“
Das EU-Gesundheitsmandat müsse aus zwei Gründen weiter entwickelt werden, so Prof. Brand. „Einmal, weil die Herausforderungen für Public Health und für die Gesundheitssysteme sich seit Maastricht massiv verändert haben, andererseits aber auch angesichts der aktuellen Diskussionen über eine Weiterentwicklung der Europäischen Architektur an sich – etwa wenn eine Vision der Vereinigten Staaten von Europa entwickelt wird.“ Wesentliche Elemente dabei seien eine weitere Stärkung des Europäischen Parlaments in Public Health Fragen, eine noch stärkere Positionierung der EU in globalen Gesundheitsfragen und der Ausbau eines europäischen Gesundheits-Informationssystems.
 

22.05.2013

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