EEG macht schnelles Handeln trotz Lähmung möglich

Computer lesen Hirnsignale ohne wochenlanges Training

Technische Systeme ermöglichen heute Hirnsignale von gelähmten Patienten in Echtzeit zu entschlüsseln und in Aktionen umzusetzen. Mit früheren Varianten sogenannter Brain-Computer Interfaces (BCI) war es Betroffenen möglich, in einem wochenlangen, intensiven Training etwa die Bedienung eines Textprogramms zu erlernen.

Gabriel Curio
Gabriel Curio

Zwar konnten Neurophysiologen und Computer wissenschaftler diesen zeitaufwändigen Lernprozess schon deutlich verkürzen. Schnelle Reaktionen von Zehntelsekunden, wie sie etwa zur Steuerung eines Rollstuhls nötig sind, waren jedoch bis vor kurzem nicht möglich.

Mit der klassischen BCI-Anwendung können gelähmte Patienten aktive Prothesen oder Textprogramme steuern. Erste Erfolge wurden in den 1990er Jahren mit Systemen erzielt, bei denen die Anwender allmählich lernten, ihre Hirnströme zu ändern. „Allerdings mussten sie zum Teil wochenlang trainieren, um ein Textprogramm zu bedienen“, erläutert Professor Dr. med. Gabriel Curio, leitender Oberarzt in der Abteilung für Neurologie und klinische Neurophysiologie an der Charité Berlin.

Um dieses zeitaufwändige Lernen der Nutzer zu verkürzen, verfolgten die Neurophysiologen der Charité zusammen mit Computerwissenschaftlern der TU Berlin unter dem Motto „let the machines learn“ den umgekehrten Weg: Beim Berliner BCI lernt nicht mehr der Nutzer spezielle Hirnsignale für den Computer zu erzeugen, sondern der Computer lernt, typische Elektroenzephalografie (EEG)-Muster der Nutzer zu entschlüsseln. Nach einer Kalibrationsphase von weniger als 20 Minuten sind die ersten rein ‚gedanken- gesteuerten’ Aktionen möglich. Erfahrene Nutzer erzielen heute in Studien eine Treffergenauigkeit von 90 Prozent: „Mit einer ‚mentalen Schreibmaschine’ können sie in 30 Minuten mehrere Sätze mit bis zu 210 Buchstaben verfassen, “ berichtet Curio.

„Jüngste Weiterentwicklungen der EEG-gestützten BCI-Technik ermöglichen auch Anwendungen, die sehr rasche Reaktionen erfordern, wie das Steuern eines Rollstuhls“, erklärt der Neurophysiologe. Denn anhand des EEGs lassen sich motorische Absichten des Patienten in Echtzeit erfassen. Auch Menschen, die unter dem seltenen Locked-in-Syndrom leiden, können BCI nutzen. Diese Patienten sind vollständig gelähmt, können auch nicht sprechen, sind aber bei Bewusstsein. „Brain-Computer Interfaces bieten ihnen eine neue Möglichkeit, mit der Außenwelt zu kommunizieren“, sagt Curio im Vorfeld des Kongresses der DGKN. Die Technik wird aktuell in klinischen Studien erprobt, um sie künftig auch in der Praxis verfügbar zu machen.

„Ein Problem, an dem Neurologen aktuell arbeiten, ist der sogenannte BCI-Analphabetismus“, erklärt Curio. Unabhängig davon, ob der Computer vom Menschen lernt oder umgekehrt, können bis zu 30 Prozent der Probanden die BCI-Technik nicht zuverlässig anwenden. Neue Computerprogramme nutzen gleichzeitig mehrere EEG-Signalarten und haben die Rate dieses „BCI-Analphabetismus“ gesenkt. „Viele zuvor erfolglose BCI-Nutzer schaffen es jetzt, das System innerhalb von nur einer Stunde zu steuern.“

Zwar tragen Probanden heute bei wissenschaftlichen Experimenten noch eine auffällige Haube mit vielen Kabeln. „Künftige BCIs werden für andere Menschen aber unsichtbar sein“, sagt Professor Dr. med Gereon Fink, Kongresspräsident der 56. Jahrestagung der DGKN, voraus. Allerdings könnte die BCI-Technik nicht nur in der Medizin zum Einsatz kommen. „Auch Industrie und Militär möchten sie nutzen.“ Es sei daher an der Zeit, eine öffentliche Diskussion zu ethischen Auswirkungen dieser Technologie zu führen. 

Informationen zur 56. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN)  finden Sie hier.


 

05.03.2012

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