Die Spuren richtig deuten
Radiologische Befunde liefern eindeutige Hinweise
Die Zahl der Kindesmisshandlung ist europaweit erschreckend hoch: Allein in Deutschland gibt es derzeit 3.000 registrierte Fälle von Kindesmisshandlungen, die jedoch nur die Spitze des Eisbergs bilden. Denn Experten schätzen, dass die Dunkelziffer etwa dreimal so hoch ist.
Dass so viele Fälle von Kindesmisshandlung unerkannt bleiben, erklärt sich Prof. Dr. Markus Uhl, Kinderradiologe an der Universitätsklinik Freiburg, zum einen durch die erfolgreichen Verschleierungstaktiken der Täter. Zum anderen sieht er den Grund darin, dass viele Kinderärzte die Zeichen der Misshandlung nicht erkennen. Im Interview mit Meike Lerner, European Hospital (EH) erläutert er, welche eindeutigen Hinweise das Röntgenbild verrät und welche weiteren Anzeichen den Pädiater auf die richtige Spur bringen.
EH: In rund der Hälfte aller Fälle von Kindesmisshandlung gibt es keine sichtbaren,äußeren Verletzungen. Für denPädiater ist es also kein Leichtes, auf den ersten Blick eine Misshandlung von einem alltäglichen Unfall oder Sturz zu unterscheiden. Auf welche Signale gilt es in diesen Fällen zu achten?
Prof. Uhl: Gewissheit über eine Misshandlung liefern einem in vielen Fällen letztlich die radiologischen Befunde. Daneben gibt es aber weitere klinische Hinweise, die eine Misshandlung nahe legen. Dazu zählen beispielsweise ein schlechter Ernährungszustand, Untergewicht oder fehlende Impfungen. Handelt es sich bereits um ältere Kinder, so sind diese häufig verstört, legen eine extreme Angepasstheit an den Tag, sind verängstig oder auch aggressiv. Auch der familiäre Hintergrund kann wichtige Hinweise liefern. So treten Misshandlungen häufiger in Familien auf, die sich in einer chronischen Belastungssituation befinden. Das können junge, alleinerziehende Mütter sein, die aufgrund der Doppelbelastung Beruf/Kind überfordert sind. Die häufigsten Misshandlungen begehen jedoch Männer, und hier insbesondere der neue Lebenspartner der Frau. Des Weiteren sind Kinder im ersten Lebensjahr, die viel schreien, einem erhöhten Misshandlungsrisiko ausgesetzt, ebenso Kinder mit einer Behinderung oder Fehlbildung. Liegt einer dieser Faktoren vor, gibt es einen berechtigten Grund, den Angaben der Eltern über einen Unfall auf den Grund zu gehen und zum Beispiel das Röntgenbild genauestens unter die Lupe zu nehmen.
EH: Was verraten das Röntgenbild oderandere bildgebende Verfahren?
Prof. Uhl: Hier gibt es einige sehr spezifische Hinweise, wie zum Beispiel Eckfrakturen an den Wachstumsfugen, sogenannte „corner fractures“. Diese resultieren nicht aus Spiel- oder Verkehrsunfällen. Vielmehr entstehen sie, wenn die Extremitäten geschüttelt werden und es zu einer Abscherverletzung der Knochen an der – relativ weichen – Wachstumszone des Knochens kommt. Dabei entstehen korbhenkelartige Ausriss- Situationen am Rand unmittelbar im Bereich der Wachstumszone. Im Vergleich dazu kommt es bei einem Unfall in der Regel zu einer Fraktur eines langen Röhrenknochens, meistens in den oberen Extremitäten. Liegt doch einmal eine Schenkelfraktur vor, so betrifft diese typischerweise den Schaft der Röhrenknochen. Ein weiteres Indiz ist eine Fraktur am hinteren Ende der Rippen, dort wo die Rippen mit der Wirbelsäule verbunden sind. Diese Abrissfrakturen sind keine Folge von Unfällen oder – wie häufig von den Tätern angegeben – einer Reanimation. Sie sind charakteristisch für Misshandlungen im Kleinkindalter und entstehen in der Situation, in der die Kinder aus ihren Bettchen gerissen, hochgehalten und geschüttelt werden. In diesem Moment quetschen die Hände des Täters den Brustkorb des Kleinkindes und es kommt zu diesen hoch spezifischen Frakturen. Aus neurologischer Sicht ist es die Art der Hirnblutung, die eine Kindesmisshandlung entlarvt. Handelt es sich um ein subdurales Hämatom, kann ein Sturz vom Wickeltisch ausgeschlossen werden, hier wäre ein epidurales Hämatom die Folge. Ein subdurales Hämatom entsteht durch heftiges Schütteln, bei dem aufgrund der unterschiedlich schnellen Beschleunigung von Knochen und Hirnmasse eine Scherverletzung zwischen der Schädelkalotte und dem Gehirn bzw. Hirnhäuten entsteht. Besteht also ein Verdacht auf Misshandlung, liefern Röntgen- und MR Bilder schließlich sehr eindeutige Beweise. Hinzu kommen Ergebnisse der augenärztlichen Untersuchung, die beispielsweise Einrisse und Einblutungen in der Retina zeigen können, die ebenfalls durch heftiges Schütteln des Kindes entstehen.
EH: Jede ärztliche Untersuchung bedarf der Einverständniserklärung der Eltern. Bei einem Verdacht auf Misshandlung steht der Arzt vor einem Problem, sollten die Eltern diese verweigern. Welche Möglichkeiten stehen dem Arzt in dieserSituation offen?
Prof. Uhl: Im Regelfall plagt die Eltern, die ihr Kind misshandelt haben ein schlechtes Gewissen oder aber sie fühlen sich mit ihren Angaben über einen angeblichen Unfall sehr sicher, so dass sie weiteren Untersuchungen in der Regel zustimmen. Lehnen Eltern tatsächlich eine Weiterbehandlung ab und besteht der begründete Verdacht einer Misshandlung, muss das Jugendamt eingeschaltet werden. Schließlich kann es soweit gehen, dass der Richter eine Zwangsanordnung für weitere Untersuchungen ausstellt. In solchen Fällen steht der Arzt vor einer schwierigen Entscheidung, denn stellt sich der Anfangsverdacht als unbegründet heraus, hat er die Familie grundlos einer großen Belastung ausgesetzt und muss mit Vorwürfen und Anschuldigungen rechnen. Allerdings kommt es nur bei einem sehr geringen Prozentsatz zu einer Fehleinschätzung des Arztes, und angesichts der hohen Dunkelziffer und nicht erkannten Misshandlungen, ist eine Fehleinschätzung ein eher geringes Problem.
14.06.2007
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