Artikel • Schmerztherapie
„Der Calvinist trägt kein Kreuz“
Verschleißerscheinungen im Bereich der Bandscheiben und der Zwischenwirbelgelenke, aber auch Fehlbelastungen der Wirbelsäule führen häufig zu einer Beeinträchtigung der Nervenwurzel und des umgebenden Gewebes mitsamt unliebsamen Folgen: Rückenschmerz. Neben anderen medizinischen Fächern ist auch die Radiologie gefordert.
Prof. Dr. Thomas Helmberger, Chefarzt des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie, Neuroradiologie und Nuklearmedizin am Klinikum Bogenhausen in München, berichtet über die „CT-gesteuerte Schmerztherapie an der Wirbelsäule“ und grenzt Methoden der Radiologie von Behandlungsoptionen der Orthopädie sowie Chirurgie ab.
In Deutschland hat sich der Rückenschmerz zu einer Volkskrankheit entwickelt: Jeder Zweite hat mittlerweile mal „Kreuz“. Dabei haben Klinikaufenthalte nach dem Krankenhausreport 2015 der Barmer GEK in den vergangenen Jahren um 50 Prozent zugenommen; 415.000 Krankenhausaufenthalte wegen lumbalen Rückenschmerzes verzeichnet die Krankenkasse für das Jahr 2013. „Möglicherweise hat das mit der deutschen Volksseele zu tun, dass wir mehr an schweren Lasten tragen als unsere europäischen Nachbarn“, lässt sich Helmberger zu eher amüsiert-philosophischen Überlegungen verleiten. „In Deutschland muss man sein Kreuz tragen. Der Calvinist trägt kein Kreuz und hat folglich weniger Rückenschmerzen.“ Die Radiologie hält mit Behandlungsmethoden wie der periradikulären Therapie/Infiltrationstherapie (PRT/PRI), der Facettengelenks-Blockade/ -Infiltrationstherapie (FIT) und der Iliosakralgelenk-Infiltration (ISG) ein gutes Arsenal an gezielten und hoch wirksamen Behandlungsoptionen bereit. Doch Helmberger ist Realist: „Schmerzpatienten landen in der Regel zuerst beim Orthopäden.“ Nicht selten greift dieser zur Injektion, in der Hoffnung, dass der Wirkstoff auch tatsächlich an die betroffene Stelle gelangt. Für den Chefarzt macht das „Schrotschuss-Verfahren“ trotzdem Sinn: „Wer heilt, hat recht: Bei vielen Beschwerden kann dieses Vorgehen durchaus ausreichen und angesichts der volkswirtschaftlichen Dimension ist das auch wünschenswert.“
Bei Helmberger in der Klinik landen in der Regel gut vordiagnostizierte Patienten mit zielgerichteten Aufträgen wie Spondylarthrose, Einengung des Neuroforamens oder diskaler Schmerz. Helmberger: „Facettengelenk LWK 3/4 links kann beispielweise der ganz konkrete Arbeitsauftrag vom Orthopäden, Neurochirurgen oder physikalischen Mediziner an uns lauten. Ebenso landen die Fälle bei uns, die erstmal der gezielten Diagnostik und dann der Intervention bedürfen. Die dritte Gruppe sind Patienten mit chronischem Schmerz und beispielsweise einer massiv degenerativ veränderten Wirbelsäule oder degenerierten Bandscheiben, wo wir ganz gezielt an das gereizte Gelenk oder den Zwischenwirbelraum herangehen können. Nach der meist CT-geführten, kontrollierten Injektion von schmerzlindernden und entzündungshemmenden Wirkstoffen verspürt der Patient oft schnell eine Besserung.“. Gerade Patienten mit chronischem Schmerz sind häufig von der Effektivität der Methode überrascht.
Die Chirurgie hält eine bunte Palette an Maßnahmen bereit.
Prof. Dr. Thomas Helmberger
Konkurrenz und/oder Berührungspunkte mit dem operierenden Fach ergeben sich insbesondere in der minimalinvasiven Chirurgie. Mithilfe der MAST-Prozeduren (Minimal Access Spine Technology) als endoskopisches Verfahren können nicht nur Neuroforamen befreit werden, sondern u.a. auch Facettomien und Fusions-OPs durchgeführt werden. „Die Chirurgie hält eine bunte Palette an Maßnahmen bereit“, berichtet Helmberger. Bei Schäden größeren Ausmaßes an der Wirbelsäule wie etwa einem massiven Bandscheibenvorfall mit akuter Nervenwurzelbedrängung sei eine periradikuläre Therapie eben nicht angezeigt. „Da muss erst einmal freigeräumt werden. Die Chirurgen können das dank MAST-Prozeduren mit ihrem minimalinvasiven Besteck elegant und ohne destabilisierende Wirbelsäuleneingriffe lösen.“
Angesichts der vielfältigen Schnittstellen zu den angrenzenden Fächern kann sich Helmberger durchaus vorstellen, dass eine Rückenkonferenz analog zum Tumorboard in der Onkologie hilfreich sein könnte, um die Schnittstellen zu bestimmen. Diagnostische und therapeutische Ansätze könnten dann interdisziplinär für den jeweiligen Patienten diskutiert werden.
Profil:
Prof. Dr. Thomas Helmberger ist seit 2007 Chefarzt des Instituts für Diagnostische und Interventionelle Radiologie, Neuroradiologie und Nuklearmedizin am Klinikum Bogenhausen in München. Zuvor leitete er zweieinhalb Jahre die Klinik für Radiologie und Nuklearmedizin und das medizinische Leistungszentrum 5 (Radiologie, Nuklearmedizin, Neuroradiologie und Strahlentherapie) des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, Campus Lübeck. Helmberger ist Mitherausgeber der Fachzeitschriften „Der Radiologe“ und engagiert sich als Gutachter für weitere Publikationen wie „European Radiology“ , CVIR oder JVIR. Er ist darüber hinaus aktiv in zahlreichen Fachgesellschaften, unter anderem als Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Interventionelle Radiologie (DeGIR) und Mitglied zahlreicher Boards von ESR, CIRSE, ECIO und ESGAR.
Veranstaltung
Freitag, 22.01.2016, 15:30 Uhr
CT-gesteuerte Schmerztherapie an der Wirbelsäule
Thomas Helmberger, München
Session: CT bei Erkrankungen des Skelettsystems
22.01.2016