Angst minimieren - Akzeptanz maximieren
Jährlich erkranken in Deutschland rund 69.000 Menschen an Darmkrebs. Damit rangiert das kolorektale Karzinom auf Platz 2 der häufigsten Krebserkrankungen. Doch die Realität könnte sehr viel positiver aussehen: Denn kaum ein anderes anderes Organ ist so hervorragend für die Frühvorsorge geeignet wie der Kolon. Die frühe Detektion und Entfernung von Polypen durch eine Darmspiegelung kann das Risiko einer Krebserkrankung erheblich senken.
Doch was nützt ein nationales Vorsorge-Screeningprogramm, wenn die Teilnehmer die Untersuchung scheuen und fern bleiben? Hilfe könnten die Radiologen leisten, so Prof. Dr. Johannes Wessling, leitender Oberarzt am Institut für Klinische Radiologie des Universitätsklinikums Münster: Denn die virtuelle CT-Koloskopie bietet Patienten Zugang zu einer nichtinvasiven Behandlungsalternative, die die Akzeptanz eines kolorektalen Screenings entscheidend verbessern könnte. Eine Zulassung für die virtuelle Darmspiegelung in der Frühvorsorge fehlt aber bisher, die Unsicherheit zur rechtlichen Basis des Verfahrens ist deshalb groß. Doch welche Barrieren stehen einer Implementierung im kolorektalen Screening-Programm entgegen? Fragt man Prof. Wessling, so sind es vor allem die Barrieren im Kopf.
Für viele Patienten, die Angst vor einer konventionellen Darmspiegelung haben, wäre die Aussicht auf ein weniger unangenehmes Untersuchungsverfahren ausschlaggebend für die Entscheidung für oder gegen eine Screening-Untersuchung. Aktuelle Studienergebnisse aus Boston zeigen, dass angeschriebene Patienten, die eine konventionelle Darmspiegelung kategorisch ablehnen, zu 80 Prozent der Durchführung einer virtuellen Koloskopie zustimmen. Dennoch wird die virtuelle Koloskopie im seit 2002 existierenden offiziellen Früherkennungsprogramm bei Darmkrebs nicht berücksichtigt. Experten wie Prof. Wessling fordern deshalb dringend, den Patienten ein breiteres Spektrum an modernen Untersuchungsverfahren anzubieten, um die Beteiligung an diesem Screeningprogramm zu steigern.
Wichtige Erkenntnisse zur Leistungsfähigkeit der virtuellen Koloskopie konnten anhand von Feldversuchen im amerikanischen Bundesstaat Wisconsin gewonnen werden. Hier wurden etwa 3.000 Patienten mit primär virtueller oder mit primär herkömmlicher Koloskopie untersucht. Im Ergebnis wurden die klinisch relevanten Läsionen von 6 mm Durchmesser und größer mit gleicher Häufigkeit gefunden. Interessanterweise waren bei den primär virtuell untersuchten Patienten jedoch fünfmal seltener Polypenentfernungen nötig. Die virtuelle Koloskopie kann damit, so Prof. Wessling, einen effektiven Beitrag zur Risikominderung einer Darmperforation leisten. Die virtuelle Darmspiegelung macht eine Narkose überflüssig. Die Patienten sind nach der Untersuchung in der Regel beschwerdefrei und können die Klinik sofort wieder verlassen – dadurch entsteht weniger Arbeitsausfall und weniger stationäre Aufenthalte, was ebenfalls die Wirtschaftlichkeit des Verfahrens erhöht. Das Thema Strahlenrisiko ist nach Prof. Wessling zu berücksichtigen: „Im Gegensatz zu anderen Screeningverfahren wird der Patient ab dem 50. Lebensjahr nur zwei bis drei Mal in seinem Leben zur Darmkrebsvorsorge eingeladen und gescannt. Mit einer mittleren Strahlendosis von 2 bis 4 mSv liegt das Verfahren trotz doppelter Datenakquisition – wir scannen in Rücken- und Bauchlage – deutlich unter den Werten für ein normales Abdomen-CT, das bei 8 bis 10 mSv liegt.“
Trotz guter und valider Datenlage fehlt der Methode in Deutschland bisher eine berufspolitische Lobby“, erklärt Prof. Wessling einer der Gründe für die derzeit fehlende Akzeptanz der Methode im Screeningprogramm. „So erschwert beispielsweise die Sorge der Gastroenterologen vor sinkenden Koloskopiezahlen die Kommunikation zwischen den beiden Disziplinen.. Die virtuelle Koloskopie taucht daher in den S3-Leitlinien der Gastroenterologischen Fachgesellschaften lediglich unter der Fußnote ‚Datenlage unzureichend, kann außerhalb von Studien für das Screening nicht empfohlen werden‘ auf.“ Erfahrungberichte aus Wisconsin, USA zeigen dementgegen, dass sich die Zahl insbesondere der therapeutischen Koloskopien in einem Früherkennungsumfeld mit virtueller Koloskopie deutlich erhöht. Modellberechnungen zeigen, dass interessanter Weise die virtuelle Koloskopie zum kosteneffektivsten Verfahren wird, wenn die Akzeptanz und damit die Teilnehmerquote ansteigen.
Bisher ist die virtuelle Darmspiegelung in Deutschland nur dort etabliert, wo die konventionelle Methode nur unvollständig oder gar nicht durchführbar ist, z.B. bei erhöhtem Blutungsrisiko. In den USA hingegen formiert sich eine starke radiologische Front rund um die American Cancer Society und das American College of Radiology, die sich für die virtuelle Koloskopie im Rahmen der Frühvorsorge stark macht. Einzig und allein gößere Krankenversicherer, allen voran Medicare Service, haben sich in einem offiziellen Statement im März 2009 gegen die Finanzierung einer virtuellen Darmspiegelung im Rahmen der kolorektalen Frühsorge ausgesprochen. Trotz dieses herben Rückschlags geht die Debatte vehement weiter. Denn die Argumentation des Versicherers Medicare zielt hauptsächlich auf eine bisher noch unzureichende Datenlage zur Kosteneffektivität der virtuellen Kolonoskopie in einem Subkollektiv der über 65 jährigen Patienten ab, die in den nächsten Jahren erbracht werden soll. Sollte es zu einem positiven Votum kommen, wird diese Entscheidung höchstwahrscheinlich auch Wirkung auf andere Länder wie Deutschland haben. Zwischenzeitlich haben bereits etliche andere Versicherer in den USA, wie z.B. United Healthcare und Blue Cross die Kostenübernahme für eine virtuelle Koloskopie im Rahmen der Früherkennung erklärt.
Abschließend betont Prof. Wessling: „Vor dem Hintergrund des Nutzen-Risiko-Verhältnisses ist es sinnvoll bei asymptomatischen Patienten, sofern keine andere Untersuchung gewünscht wird, primär eine virtuelle Koloskopie durchzuführen. Auf diese Weise könnte der Anteil der im Ergebnis negativen konventionellen Koloskopien und die hiermit verbundenen potentiellen Risiken erheblich gesenkt werden, gleichzeitig aber die begrenzten Resourcen in der Versorgung effektiver genutzt werden. Die Kombination von virtueller und herkömmlicher koloskopischer Verfahren könnte damit, fernab fachspezifischer Interessen und Aspekten der Kosteneffektivität, ein sinnvoller Beitrag zur Senkung der kolorektalen Mortalität werden.“
30.10.2010