Neurologische Erkrankungen auf dem Vormarsch
„Erkrankungen des Nervensystems und des Gehirns sind häufiger als Krebs, und belasten die europäischen Volkswirtschaften neuen gesundheitsökonomischen Berechnungen zufolge mit 386 Milliarden pro Jahr“, betonte heute Prof. Gérard Said, neu gewählter Präsident der Europäischen Neurologen-Gesellschaft (ENS) beim ENS-Jahreskongress in Berlin. „Das wird noch häufig massiv unterschätzt.“
Insgesamt leiden rund 50 Millionen Menschen im EU-Raum an einer oder mehreren neurologischen Erkrankungen, rechnet die WHO in ihrem „Neurology Atlas“ vor. Bei steigender Tendenz: Schätzungen des European Brain Council zufolge soll die Erkrankungshäufigkeit in den kommenden Jahren um weitere 20 Prozent zunehmen. Allein die Zahl von Demenzkranken und Parkinson-Patient/-innen soll sich in diesem Zeitraum verdoppeln. „Trotz dieser Dimensionen werden aber den Erkrankungen des Gehirns oder Nervensystems derzeit weniger öffentliche Aufmerksamkeit oder Fördermittel zuteil als etwa onkologischen oder Herz-Kreislauf-Erkrankungen“, kritisiert Prof. Said. „Es ist aber doch erfreulich, dass unsere Aufklärungsarbeit Früchte zeigt und die EU in den vergangenen Jahren diesem Thema mehr Bedeutung beigemessen hat und Brain Research im siebten Rahmenprogramm spezifisch angesprochen ist.“
Migräne steht ganz oben auf der Liste der am meisten verbreiteten neurologischen Erkrankung. Rund 41 Millionen Europäer/-innen leiden laut European Brain Council an den belastenden chronischen Kopfschmerzen. Rund 4,8 Millionen Menschen im EU-Raum leiden an verschiedenen Formen der Demenz, an Epilepsie rund 2,6 Millionen, an der Parkinson-Krankheit 1,2 Millionen, und rund eine Million Menschen werden jährlich Opfer eines Schlaganfalls.
Das alles stellt auch eine massive volkswirtschaftliche Belastung dar. Rund ein Drittel der europäischen Gesundheitskosten werden durch neurologische Erkrankungen verursacht. Prof. Said fordert daher eine Aufstockung der Budgets in den Bereichen Grundlagenforschung, Entwicklung neuer Behandlungsmethoden und Ausbildung für Neurologen.
Volkskrankheit Neuropathie stark unterdiagnostiziert
Häufig unterschätzt, aber mit geschätzten 20 bis 30 Millionen Betroffenen weltweit besonders verbreitet, sind verschiedene Ausprägungen von Neuropathien – eines der Schwerpunktthemen des aktuellen Neurologenkongresses. Schon angesichts der stetigen Zunahme sogenannter Zivilisationskrankheiten stellt hier die diabetische Neuropathie, an der mehr als jede/r dritte Diabetiker/-in erkrankt, eine ganz besondere gesundheitspolitische und medizinische Herausforderung dar. „Die Zahl unterdiagnostizierter und unterbehandelter Fälle diabetischer Neuropathie ist zahlreichen internationalen Daten zufolge sehr hoch“, so Prof. Said. „Das ist schon deshalb besonders problematisch, weil sich bei entsprechender Früherkennung und konsequenter Behandlung dramatische Konsequenzen wie Amputationen häufig vermeiden ließen.“ Die sensomotorische diabetische Neuropathie ist nach wie vor der wichtigste Risikofaktor für nicht-unfallbedingte Amputationen an den unteren Extremitäten. Mit dramatischen Konsequenzen: Eine solche Amputation ist laut neueren Daten der American Diabetes Association mit einem Sterblichkeitsrisiko von 50 Prozent innerhalb von drei Jahren und von 60 bis 70 Prozent im Laufe von fünf Jahren verbunden.
Immunbedingte Neuropathien: Neue Einsichten in die Krankheitsentstehung
Während die der diabetischen Neuropathie zugrunde liegenden Krankheitsmechanismen geklärt sind, ist das bei anderen, selteneren Formen der Neuropathie viel weniger klar. Dies gilt insbesondere für die selteneren, aber oft dramatisch verlaufenden immunvermittelten Neuropathien, denen ein spezielles Symposium gewidmet ist. Bei diesen Erkrankungen beschädigt aufgrund einer Fehlfunktion das Immunsystem die Nervenfasern, speziell die Myelinscheiden, die die Nervenfasern umhüllen. Die am häufigsten auftretende Form der immunvermittelten Polyneuropathie ist das Guillan-Barré-Syndrom, eine Krankheit, die Lähmungserscheinungen an Armen und Beinen verursacht und bis hin zur Atemlähmung führen kann.
Eine andere Form ist die chronisch inflammatorische demyeliniserende Polyradikuloneuropathie (CIDP). Sie tritt oft gemeinsam mit HIV-Infektionen, Diabetes oder Hepatitis C auf. Typisch für diese Erkrankung sind Lähmungen in den Beinen und ein schwankender, unsicherer Gang. Die meisten Patient/-innen mit immunvermittelten Polyneuropathien müssen in der Akutphase intensivmedizinisch betreut werden, danach benötigen sie oft Jahre, um sich von den Lähmungen zu erholen.
Auf dem Kongress präsentiert Prof. Said unter anderem neue Einsichten zu den sogenannten Vaskulitiden, bei denen es aufgrund von Autoimmunprozessen zu Entzündungen der Gefäße und in der Folge auch zu Schädigungen des von ihnen versorgten Organs kommt. „Für manche Formen von Vaskulitis sind Autoantikörper, die gegen Strukturen des eigenen Körpers gerichtet sind, verantwortlich“, erklärt Prof. Said. Vor allem sind dies die ANCA (antineutrophile cytoplamatische Antikörper). Bei anderen Formen von Vaskulitis sind sogenannte Immunkomplexe die Ursache für die Gefäßentzündung. Die Eigenschaft der Antikörper, bestimmte Eiweißstrukturen des Immunsystems, das sogenannte Komplementsystem, zu aktivieren, verursacht eine Entzündung der betroffenen Gefäße.
Immunglobuline bald subkutan, nicht bloß intravenös
Die Therapie vor allem dieser Formen von Neuropathie ist nach wie vor eine große Herausforderung für Neurolog/-innen. In den vergangenen Jahren wurde der Nachweis erbracht, dass mit der Verwendung Intravenöser Immunglobuline (IVIG) bei immunbedingten Neuropathien eine gute Wirkung erzielbar ist. Die aufwändig aus Spenderplasma hergestellten Medikamente wirken auf unterschiedliche Bereiche des Immunsystems und zeichnen sich durch geringe Nebenwirkungen aus. Eine neue, auf dem ENS-Kongress in Berlin präsentierte Studie britischer, italienischer und Schweizer Forscher/-innen zeigt, dass in Zukunft die subkutane Verabreichung von Immunglobulinen eine attraktive Alternative sein könnte. „Die neue Subkutantherapie scheint bei gleicher oder etwas höherer Wirksamkeit als IVIG eine attraktive Alternative zu diesen zu sein, weil Patient/-innen nicht zur Infusion ins Spital müssen und sich daher mehr Flexibilität bewahren“, kommentiert Prof. Said.
Auch die autologe periphere Stammzellentransplantation, wie sie bisher vor allem bei Blutkrebs eingesetzt wurde, wird mittlerweile in Studien zur Therapie von CIDP untersucht. „Wir müssen sicherstellen, dass Neuropathie-Patient/-innen, für die sich diese innovativen Behandlungsmethoden eignen, auch tatsächlich Zugang zu diesen Therapien bekommen“, so der ENS-Präsident.
Quelle: ENS Presidential Symposium: Autoimmune disorders of the peripheral nervous system and muscle
Bildquelle: KH Schwarzach
22.06.2010