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Multiple Sklerose: Verdacht gegen Epstein-Barr-Virus erhärtet

Was Multiple Sklerose (MS) auslöst, ist bis heute ungeklärt. Eine potenzielle Ursache ist das Epstein-Barr-Virus (EBV). Wie dieses Virus eventuell eine Rolle spielt bei der Autoimmunerkrankung, haben Neurologen untersucht. Das Ergebnis: Das Virus könnte ursächlich sein für die schädlichen Prozesse, die bei MS im Nervensystem ablaufen. Darauf deutet eine auffällig hohe Zahl von EBV-spezifischen T-Zellen bei den Betroffenen hin, die für eine aktive – und dann folgenreiche – EBV-Infektion bei ihnen spricht.

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Mitglied der Forschungsteams und Ansprechpartner für die jetzt publizierte MS-Studie: Prof. Nicholas Schwab

Foto: Pat Röhring

Wiederaufgerollt wurde der „Fall“ im Januar dieses Jahres. Damals war eine retrospektive Studie erschienen, die auch Prof. Dr. Nicholas Schwab und sein Team an der Westfälischen Wilhelms-Universität (WWU) aufhorchen ließ. Daten von mehr als zehn Millionen Angehörigen des US-Militärs hatten gezeigt: Jeder, der im Beobachtungszeitraum mit Multiple Sklerose diagnostiziert wurde, hat vorher Antikörper gegen das das Epstein-Barr-Virus entwickelt. Der für MS charakteristische Nervenschaden entstand erst nach dem Auftreten von EBV-Antikörpern im Serum. Eine parallele Studie gab zudem Hinweise auf eine ursächliche Verbindung zwischen MS-Pathologie und EBV-Antikörpern. EBV könnte am Aufkommen und möglicherweise auch Fortbestehen der chronisch-entzündlichen Autoimmunerkrankung MS beteiligt sein.

Im Zentrum der Studie, die im „Journal of Experimental Medicine“ veröffentlicht wurde, stehen Rezeptoren, die auf T-Zellen zu finden sind und die an alle denkbaren Eiweißstrukturen binden können – unter anderem an die von EBV. Deren Analyse zeigte: MS-Patienten haben mehr unterschiedliche, gegen EBV gerichtete T-Zell-Rezeptor-Sequenzen im Blut als Vergleichspersonen. Die zelluläre Immunantwort gegen EBV ist also bei MS-Patienten vielfältiger, erläutert der Erstautor der Studie, Dr. Tilman Schneider-Hohendorf: „Pro 100.000 T-Zellen finden wir bei den Betroffenen eine zusätzliche, EBV-spezifische T-Zelle. Für Laien klingt das nach wenig, summiert sich aber gewaltig, wenn man die Gesamtzahl einzigartiger T-Zellen im menschlichen Körper bedenkt.“ Diese wird auf einen einstelligen Milliardenbetrag geschätzt.

Zudem produziert das Immunsystem von MS-Patienten offenbar kontinuierlich neue EBV-spezifische T-Zellen, die dann vom Blut ins Gewebe auswandern. Das entdeckte das Forschungsteam bei Patienten, die ein Medikament erhielten, welches diesen Auswanderungsprozess stoppt. Bei ihnen sammelten sich die fraglichen T-Zellen im Blut an.

Um sicher zu gehen, dass die MS-Erkrankung – und nicht etwa genetische Unterschiede zwischen den untersuchten Proben – die ungewöhnlich große Zahl EBV-spezifischer T-Zellen erklärt, nahmen die Neuroimmunologen eineiige Zwillinge in den Blick, von denen nur eines der Geschwister an MS leidet. Durch eine Kooperation mit der Ludwig-Maximilians-Universität München kamen sie an die Daten zu dieser seltenen Konstellation, bei der die Genetik, äußere Einflüsse und sogar die „Kinderstube“ identisch sind. Auch die erkrankten Zwillingsgeschwister wiesen mehr EBV-spezifische T-Zellen auf. Aber warum ist die Immunantwort gegen das Epstein-Barr-Virus bei MS-Patienten breiter?

Um dieser Frage nachzugehen, schauten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler genauer auf die Strukturen des Virus, die von T-Zellen gesunder und erkrankter Spender erkannt wurden. Denn auch in der Normalbevölkerung sind 19 von 20 Menschen mit EBV infiziert, aber eben nicht erkrankt. Das Virus wird bei ihnen gut vom Immunsystem kontrolliert, sodass es sich selbst in Dauerschlaf versetzt – Latenz genannt. Ist das Virus hingegen im Körper aktiv, verwendet es andere Bausteine seines Genoms als bei der Latenz – man spricht vom lytischen Zyklus. Die Arbeitsgruppe fand auf T-Zellen im Nervenwasser von MS-Patienten häufiger Rezeptoren gegen lytische EBV-Merkmale, ein Zeichen dafür, dass das Virus aktiv war.

Prof. Dr. Heinz Wiendl, Direktor der Universitätsklinik für Neurologie mit Institut für Translationale Neurologie in Münster, fasst die Erkenntnisse zusammen: „Unsere Studie legt nahe: T-Zellen, die bei MS ins Gehirn einwandern, sind möglicherweise auf der Suche nach aktiven EBV-Herden. Stimmt das, müssten nicht nur im Nervenwasser, sondern auch im Gehirn von MS-Patienten vermehrt EBV-spezifische T-Zellen zu finden sein“. Diese Frage wollen die Forscher in einer weiteren Analyse beantworten. Sollte sich ihre Annahme bestätigen, könnte wiederkehrende EBV-Aktivität im Gehirn an der Entstehung neuer Krankheitsschübe bei MS-Patienten beteiligt sein. Das wäre ein durchschlagender „Fahndungserfolg“. Denn dann ließe sich die MS möglicherweise besser bekämpfen und MS-Schübe könnten verhindert werden. Im Idealfall würde eine Impfung das Risiko einer folgenreichen EBV-Infektion verringern. Die Abklärung wird Jahre dauern – aber immerhin: Erste Impfstudien laufen bereits.

Quelle: Westfälische Wilhelms-Universität Münster

06.09.2022

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