Bildquelle: @USECON – Birgit Harthum
Artikel • Notfallübung im virtuellen Raum
KI-gestützte Mixed Reality zum Training für Einsatzkräfte
„Wir haben drei Rote, eine Gelbe, eine Tote…“ Dies ist keine ungewöhnliche Feststellung für einen Notfallsanitäter bei einem Rettungseinsatz. Ungewöhnlich ist nur, dass diese Triage im virtuellen Raum – und daher für die Umstehenden unsichtbar, aber nicht lautlos – stattfand.
Artikel: Cornelia Wels-Maug
Diese Triage war Teil eines Feldversuches, der Ende September am Universitätsklinikum in Heidelberg (UKHD) im Rahmen des „MED1stMR“ Projektes durchgeführt wurde. Das seit Juni 2021 laufende und auf 36 Monate angelegte interdisziplinäre EU-Forschungs- und Technologieprojekt involviert Wissenschaftler, Technologiepartner sowie Anwender von Organisationen des Rettungswesens bzw. Notfallsanitäter aus neun EU-Ländern und von 19 Organisationen. Ziel ist es, mithilfe einer zu entwickelnden Lösung medizinische Ersthelfer auf sogenannte Großschadensereignisse vorzubereiten. Letztere sind von einer hohen Zahl Verletzter bzw. Erkrankter begleitet und werden beispielweise durch Zugunglücke, Verkehrsunfälle, Explosionen oder Terroranschläge verursacht.
[Die Planung von Simulationen mit echten Menschen als verletzte Probanden] beläuft sich auf etwa ein Jahr
Stefan Mohr
Großschadenslagen erfordern von Rettungs- und Notfallsanitätern, dass sie medizinische Hilfe unter extremen Belastungen leisten, die Schwere der Verletzungen korrekt einschätzen und Organisation und Kommunikation vor Ort übernehmen können. Das Trainieren solcher Szenarien ist jedoch mit einem enormen personellen und finanziellen Aufwand verbunden, sodass solche Trainingseinsätze in der Regel nur alle paar Jahre und nur für ein Szenario durchgeführt werden können. Dr. Stefan Mohr, Oberarzt an der Klinik für Anästhesiologie am UHKD, der den dortigen Feldeinsatz des MED1stMR Projektes mit einer Kollegin leitet und selbst Notärzte ausbildet, kennt sich mit den damit verbundenen Herausforderungen aus: „In Heidelberg fanden Simulationen mit 100 verletzten Probanden in den Jahren 2006 und 2017 statt, im November diesen Jahres wird wieder ein Großeinsatz geprobt werden.“ Das etliche Jahre zwischen den Ereignissen verstreichen hängt auch damit zusammen, dass der Planungsprozess sehr aufwendig und zeitintensiv ist. „Er beläuft sich auf etwa ein Jahr“, schätzt Mohr. Hinzu kommt, dass jede Szene nur einmal spielbar ist. Und genau an diesen Beschränkungen setzt MED1stMR an.
Europäische Trainingslösung auf Basis von Mixed Reality
Das im EU-Forschungsrahmenprogramm Horizon 2020 mit 7.8 Millionen Euro geförderte Forschungsprojekt will medizinische Einsatzkräfte gezielt auf komplexe Unfallsituationen vorbereiten sowie deren Resilienz stärken. Dazu wurde in den ersten beiden Jahren der Förderlaufzeit unter der Ägide des Austrian Institute of Technology (AIT) zuerst der Bedarf der Endnutzer ermittelt, um alle relevanten Bedürfnisse zu identifizieren. Anschließend wurde ein Prototyp der Trainingslösung entwickelt, die Mixed Reality, Patientensimulationspuppen sowie ein KI-basiertes Szenariosteuerungstool verwendet und es ermöglicht, das Stressniveau der Einsatzkräften zu messen. Durch die Simulationspuppen erhalten die Ersthelfer zusätzlich haptisches Feedback – sie können unter anderem den Puls fühlen.
Bildquelle: @USECON – Birgit Harthum
Durch das Messen der Biosignaldaten der Trainierenden lässt sich deren Stressniveau ermitteln. Die gesammelten Daten werden den Trainern in einem Dashboard angezeigt, das den Ablauf des virtuellen Szenarios, die Entscheidungen der Auszubildenden und ihre Leistungsdaten visualisiert. Um das Lernergebnis zu steigern, können die Ausbilder das Szenario spontan mittels eines auf KI basierden Mechanismusses verändern und an die Bedürfnisse der Trainierenden anpassen. Durch die entwickelte Lösung ergeben sich neue und realitätsnahe Trainingsmöglichkeiten, mit denen die Handlungssicherheit erhöht und die Bewältigungsstrategien der medizinischen Ersthelferinnen verbessert werden können. „Das Projekt hat erstmals Forschungseinrichtungen, medizinische Einsatzorganisationen und technische Unternehmenspartner auf europäischer Ebene für die Entwicklung eines international einsetzbaren MR-Trainingssystems zusammengebracht“, unterstreicht Projektleiter Helmut Schrom-Feiertag vom AIT Center of Technology Experience.
Erfahrungen vom Feldversuch in Heidelberg
Insgesamt werden circa 200 mit Audio- und VR-Headsets sowie Fuß-und Handsensoren ausgestattete medizinische Ersthelfer die Chance erhalten, mit der Lösung zu trainieren und dem Forschungs- und Entwicklungsteam wertvolles Feedback zurückzuspielen.
In diesem Sommer fand in Wien die erste Trainingseinheit statt, gefolgt vom Feldversuch in Heidelberg in der letzten Septemberwoche. Dort waren ein interdisziplinäres Team aus sieben Forschergruppen unter der Leitung von Dr. Ottilie Frenkel und Prof. Dr. Cornelia Wrzus, Leitung Psychologische Alternsforschung, Universität Heidelberg, im Einsatz. Wrzus verweist insbesondere auf den Teamtrainingseffekt der zu testenden Lösung hin: „Typischerweise wird immer nur eine Einsatzkraft ausgebildet, aber diese Lösung erlaubt es uns, bis zu vier Ersthelfer auf einmal zu trainieren, sodass gleichzeitig auch die Koordination der Hilfskräfte untereinander eingeübt werden kann. Das war bisher nicht möglich.“ Sie erläutert auch, dass es im Heidelberger Feldversuch auch darum geht, die einzelnen Rettungskräfte dazu anzuleiten, auf den eigenen Zustand zu achten: Handelt die Person 'auf Autopilot' oder ist sie sich ihrer inneren Vorgänge bewusst? Mohr und Wrzus begrüßen, dass die virtuelle Welt es ihnen erlaubt, unterschiedliche Einsatzszenarien beliebig oft zu reproduzieren und dadurch wissenschaftliche Erkenntnisse gewinnen zu können.
Bildquelle: @USECON – Birgit Harthum
Ausblick
In den nächsten vier Monaten werden vier weitere Feldversuche stattfinden: in der schwedischen Region Jämtland Herjedalen, dem Campus Vesta im belgischen Ranst, der Madrider Rettungseinheit SUMMA und dem Hellenic Rescue Team in Griechenland. Bei jedem dieser Einsätze werden die Anwender dem Forschungs- und Entwicklungsteam wertvolles Feedback über ihre Erfahrungen mit der Technologie geben. Dadurch soll sichergestellt werden, dass die Trainingslösung in einem agilen Entwicklungsprozess optimal an die Bedürfnisse der Endnutzer angepasst wird, sodass am Ende der Laufzeit des Projektes ein marktfähiges Produkt vorgestellt werden kann.
23.10.2023