Artikel • Aus der Hüfte
Der größte Feind des Hüftscreenings ist sein Erfolg
Durch das flächendeckende Screening nach Hüftdysplasien per Ultraschall kurz nach der Geburt sind in vielen Ländern die Fallzahlen schwerer Fehlstellungen deutlich zurückgegangen. Prof. Dr. Reinhard Graf, der das Verfahren der Hüftsonographie vor knapp 30 Jahren entwickelt hat, sieht darin Erfreuliches – aber auch Gefahren. Eine besondere Rolle spielt die Ausbildung junger Schaller.
Bericht: Wolfgang Behrends
Die Hüftluxation ist die häufigste angeborene Erkrankung des Stütz- und Bewegungsapparates weltweit. In vielen Ländern stellt sie ein großes Problem dar – alleine in Europa werden ca. 12% der künstlichen Hüftgelenke bei älteren Patienten nur deshalb eingesetzt, weil keine frühzeitige Diagnose der Fehlstellung erfolgt ist. „Die lässt sich bereits im Säuglingsalter erkennen“, sagt Prof. Graf. „Einfach ausgedrückt: Die Kugel des Gelenks befindet sich bei diesen Kindern nicht, wie vorgesehen, in der Gelenkspfanne, sondern außerhalb.“ Eine solche Luxation resultiert in unterschiedlich langen Beinen und damit verbunden in einem charakteristischen Watschelgang.
Seitdem Säuglinge kurz nach der Geburt routinemäßig per Ultraschall auf eine mögliche Hüftdysplasie untersucht werden, ist diese Fehlstellung fast vollständig verschwunden. „1991 wurde die Hüftsonographie erstmals in Österreich als Screeningmethode für alle Kinder eingeführt“, berichtet der Orthopäde, der bereits 1978 mit der Forschungsarbeit für das Verfahren begonnen hatte. „Damit waren wir seinerzeit weltweit Vorreiter. Als wir in Österreich bereits routinemäßig alle Säuglinge geschallt haben, sprach man auf den großen Kongressen in den USA gerade erst darüber, dass ein solches Verfahren überhaupt möglich sei.“
Behandlungsrate brach nach Screening-Start um die Hälfte ein
Mittlerweile kommt die von Graf entwickelte Methode seit mehr als einem Vierteljahrhundert flächendeckend zur Anwendung – mit messbaren Auswirkungen: „Die Statistiken sind völlig eindeutig“, sagt Graf. „Daten aus Österreich belegten schon nach kurzer Zeit einen umwerfenden Erfolg.“ Pro Jahr werden etwa 80.000 Säuglinge geboren und fast alle Säuglingshüften per Ultraschall untersucht. Die Behandlungsrate ging danach um 50% zurück. „Das klingt paradox, ist aber im Grunde einleuchtend“, erklärt der Orthopäde. „Zuvor lieferte die manuelle Untersuchungdie Grundlage, also eher eine Diagnose nach Gefühl. Nun lagen Bilder und Fakten vor,die zeigten, dass in vielen Fällen gar keine Handlungsnotwendigkeit bestand und umgekehrt viele Kinder mit Behandlungsbedarf übersehen wurden.“ Durch den Rückgang der unnötigen Eingriffe und aufwändigen Spätkorrekturen sanken die Kosten in diesem Bereich um etwa ein Drittel.
Trotz großer Erfolge hat sich das generelle Hüftscreening der Säuglinge nicht überall durchgesetzt. Graf: „Das ist vor allem eine politische Frage. In den USA funktioniert beispielsweise das Gesundheitswesen ganz anders. Dort würde ein solches Screening nicht funktionieren, da viele Einwohner nicht krankenversichert sind und die Kosten nicht übernommen werden.“
Ausbildung steht auf stabilem Fundament
Mittlerweile gibt es umfangreiche Evidenz für den Nutzen der Hüftsonographie im Säuglingsalter. Und auch die Zukunft des Verfahrens steht auf sicheren Beinen, denn die Ausbildungsstandards sind hoch, berichtet Graf: „Seit der Entwicklung der Hüftsonographie wurden Ausbildungssysteme erarbeitet und immer weiter verfeinert. Deutschland ist dabei weltweit Vorbild, da die Kassenärztlichen Vereinigungen eindeutige Regelungen festgelegt haben und regelmäßige Qualitätskontrollen der angefertigten Sonogramme durchführen. Dadurch ist der Standard sehr hoch.“
Die umfangreiche Regulation hat auch zu einer Vereinfachung des Ausbildungssystems geführt. „Ein großer Teil besteht darin, Checklisten abzuarbeiten, ähnlich wie der Pilot im Flieger“, vergleicht Graf. Dadurch entfällt die Abhängigkeit brauchbarer Ergebnisse von Erfahrung oder Geschicklichkeit. In einigen Ländern werden die Untersuchungen daher inzwischen von technischen und radiologischen Assistenten durchgeführt. Ist die Ausbildung präzise und konsequent, gibt es keine mehrdeutigen Ergebnisse: „Da gibt es dann auch keinen Interpretationsspielraum und keine Notwendigkeit zur Diskussion“, sagt Graf. „Das kommt auch dem Risk-Management zugute.“
„Die finale Diagnose stellt immer noch der Mensch“
Die Hüftsonographie ist ein sehr kleines Marktsegment, der Anreiz für Innovationen nicht besonders groß
Reinhard Graf
Eine weitere Verfeinerung der Ultraschalltechniken ist auch in der Hüftsonographie interessant, stößt aber bei der Industrie kaum auf offene Ohren. „Zusammen mit Ingenieuren der Technischen Universität Graz habe ich bereits eine Reihe von Vorschlägen für Forschungsprojekte gemacht“, sagt Graf. „Aber viele Firmen interessiert vor der Entwicklung zunächst einmal, wie viele Geräte sie voraussichtlich verkaufen werden. Die Hüftsonographie ist ein sehr kleines Marktsegment, der Anreiz für Innovationen nicht besonders groß.“
Im Gegensatz dazu ist die automatisierte Auswertung diagnostischer Bilder durchaus von Interesse. Angst um den Berufsstand hat Reinhard Graf angesichts lernender Algorithmen jedoch nicht: „Die finale Diagnose stellt immer noch der Mensch. Allerdings kann die computergestützte Bildanalyse dazu beitragen, die Präzision weiter zu steigern.“ Insbesondere beim Abarbeiten der standardisierten Prozedur-Checklisten könnte der Algorithmus große Entlastung bieten. „Das wird kommen“, ist der Orthopäde überzeugt.
Bewährtes bewahren – aber nicht um jeden Preis
Der große Erfolg des Verfahrens könnte aber womöglich gleichzeitig sein größtes Problem werden, sagt Graf: „Da wir seit fast 30 Jahren Hüftultraschall durchführen und Luxationen frühzeitig erkannt und korrigiert werden, sind die schweren Fälle bei uns so gut wie ausgestorben. Ähnlich wie etwa bei der besonders effektiven Polio-Impfung lässt dadurch das Bewusstsein in der Bevölkerung für diesen Risikofaktor nach. „Viele Mütter verstehen nicht, warum sie ihre Kinder überhaupt untersuchen lassen sollen, denn in ihren Augen gibt es diese Erkrankung nicht mehr“, berichtet der Orthopäde. Die Untersuchung bleibt unverändert notwendig, doch es ist zunehmend schwierig geworden, diese Tatsache auch zu vermitteln.
Deshalb rät der versierte Schaller den jungen Kollegen auch, entsprechende Ausbildungskurse zu absolvieren – selbst, wenn dieser Aspekt in ihrer späteren Tätigkeit kaum zum Tragen kommt. Auch die Ausbilder selbst sollten regelmäßig Refresherkurse absolvieren, um auf dem neuesten Stand zu bleiben. „Es ist wichtig, die Entwicklungen und Fortschritte im Blick zu behalten. Große Teile der medizinischen Zusammenhänge sind schlicht nicht bekannt – und es ist keine Schande, das zuzugeben. Nur dadurch wird Fortschritt überhaupt möglich“, sagt Graf.
Dieses Prinzip ist dem vielfach ausgezeichneten Orthopäden aus eigener Erfahrung bekannt. „Als ich seinerzeit die Hüftsonographie entwickelte, schüttelte mein Chef nur mit dem Kopf. Aber er sagte: ‚Überzeugen Sie mich‘ – später erkannte er, welche Vorteile die neue Methode bringt. Und so rät Graf auch allen Nachwuchsmedizinern, sich einen offenen Geist zu bewahren und nicht sklavisch dem Pfad der alteingesessenen Autoritäten zu folgen. „Denn schon manche vermeintliche Schnapsidee eines Jungspunds hat später die Medizin vorangebracht. Neugierig bleiben zahlt sich aus.“
Profil:
Prof. Dr. Reinhard Graf war von 1988 bis 2011 ärztlicher Leiter des Allgemeinen und Orthopädischen Landeskrankenhauses Stolzalpe, Österreich, wo er auch Chefarzt der Orthopädie war. Insbesondere in der Sonographie wirkte der Orthopäde entscheidend an neuen Techniken mit, darunter die nach ihm benannte Hüftsonographie bei Säuglingen, und wurde für seine Leistungen vielfach ausgezeichnet. Graf ist Mitglied der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina sowie Ehrenmitglied zahlreicher Fachgesellschaften, darunter die Österreichische Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie, die Deutschen Gesellschaften für Chirurgie und Ultraschall in der Medizin, die Gesellschaft für Orthopädie Bulgarien, die Gesellschaft für Kinderorthopädie Türkei und die Gesellschaft für RadiologieIran. Seine Expertise im Bereich der Sonographie gibt Graf auch im „Unruhestand“ an Nachwuchs-Schaller in bislang fast 40 Ländern weiter.
Veranstaltungshinweis:
Raum: Kongresssaal
Mittwoch, 11. Oktober 2017, 17:45 – 18:45
Eröffnungsabend
Vortrag "30 000 Jahre Hüftgelenk, 30 Jahre Hüftultraschall"
Prof. Dr. Reinhard Graf (Stolzalpe/AT)
11.10.2017