Gelenkschmerzen
„Betroffene müssen rascher adäquate Behandlung bekommen“
Mit ihrer in Brüssel gestarteten Kampagne „Europäisches Jahr gegen den Schmerz“ (European Year Against Pain, EYAP) stellt die Europäische Schmerzföderation EFIC im Jahr 2016 ein Gesundheitsproblem in den Mittelpunkt, unter dem weltweit mehr als die Hälfte der Bevölkerung über 50 Jahren zu leiden hat. „Gelenkschmerzen gehören zu den häufigsten gesundheitlichen Beschwerden überhaupt und sind ein führender Grund für Behinderung“, betont EFIC Präsident Dr. Chris Wells. „Ein bewegungsarmer Lebensstil, immer weiter verbreitete Adipositas und die gestiegene Lebenserwartung werden Gelenkschmerzen in Zukunft zu einem noch dringlicheren Problem machen. Gelenkschmerzen verursachen, so wie chronische Schmerzen generell, nicht nur individuelles Leid, sondern enorme gesellschaftliche Kosten durch Gesundheitsausgaben, Krankenstandstage, Produktivitätsverlust oder Berufsunfähigkeit.“
Welche wirtschaftliche Dimension das haben kann, zeigen Zahlen aus den USA: Zwischen 1996 und 2011 verzeichneten Ausgaben für die Behandlung von Gelenksbeschwerden mit 192 Prozent den höchsten Anstieg. Im gesamten EU-Raum stellen muskuloskelettale Probleme die wichtigste Diagnosegruppe dar, was Gesundheitsausgaben und indirekte Kosten durch Produktivitätsausfälle betrifft.
Trotz großer Anstrengungen bringen die derzeit verfügbaren Therapien nicht immer die gewünschten Erfolge und bleiben mitunter hinter den Erwartungen der Patientinnen und Patienten zurück. „Die Versorgung muss deutlich verbessert werden. Betroffene müssen schneller eine adäquate, sichere Behandlung bekommen, die nicht nur die Schmerzen bekämpft, sondern auch die Gelenke funktionstüchtig erhält. Wir möchten zeigen, was dazu nötig ist, und ein Bewusstsein dafür schaffen, wie sehr er sich lohnt, in die Behandlung von Gelenkschmerzen zu investieren“, erklärt der EFIC-Präsident.
Im Europäischen Jahr gegen Gelenkschmerz soll die Öffentlichkeit über die vielfältigen Beschwerdebilder aufgeklärt und über die Behandlungsmöglichkeiten informiert werden, damit Betroffene auch „rechtzeitig angemessene Hilfe suchen“, wie EFIC Präsident Wells betont. Unter www.efic.org werden Faktensammlungen und Patienteninformationen zu den verschiedenen Formen von Gelenkschmerzen zur Verfügung gestellt. In den 37 Ländern, in denen EFIC mit nationalen Chapters vertreten ist, gibt es eine Vielfalt an Initiativen, Öffentlichkeitsarbeit und Tagungen. Im September wird die EFIC zu dieser Thematik auch ein Fachsymposium in Dubrovnik (Kroatien) veranstalten.
Gelenksschmerz hat viele Gesichter: Mindestens 150 Arten bekannt
Bislang wurden an die 150 verschiedenen Formen von Gelenkschmerzen mit zum Teil sehr unterschiedlichen Ursachen identifiziert. Sie können beispielsweise von Knochenbrüchen ebenso herrühren wie von vorangegangenen Gelenksoperationen. Die häufigste Ursache für chronische Probleme mit den Gelenken sind abnützungsbedingte Arthrosen, Kristallablagerungen (Gicht) und entzündliche Prozesse. „Die vielfältigen Ursachen und Mechanismen der breiten Palette von Gelenkschmerzen werden heute noch nicht ausreichend verstanden, denn die Forschung hat sich bis dato vor allem auf die häufigsten Formen konzentriert“, berichtet Prof. Bart Morlion, President elect der EFIC, der das European Year Against Pain inhaltlich ausrichtet. „In letzter Zeit gab es aber eine Reihe wichtiger neuer Erkenntnisse, die ihren Weg in die Praxis finden müssen, etwa was gemeinsame Entstehungmechanismen oder Manifestationen ganz unterschiedlicher Formen von Gelenkschmerzen betrifft. Die Politik ist gefordert, die nötigen Rahmenbedingungen für maßgeschneiderte Programme für unterschiedliche Patientengruppen zu schaffen.“ Während etwa Veränderungen an den Knochen mit entsprechenden Wirkstoffen behandelt werden sollten, könne man stark Übergewichtigen ein Gewichtsreduktionsprogramm anbieten. Die Forschung sei weiterhin gefragt, Antworten auf die zahlreichen offenen Fragen bei der Diagnose und Behandlung zu finden. „Wir setzen darauf, dass das Europäische Jahr gegen Gelenkschmerzen diesbezüglich wichtige Impulse setzen wird“, so Prof. Morlion.
Weite Verbreitung von Arthrose und Gicht
Unter den entzündlichen schmerzhaften Gelenkserkrankungen ist Gicht die häufigste. Sie ist durch akute Schmerzepisoden charakterisiert, aus denen sich auch eine chronisches entzündliches Geschehen entwickeln kann. Von Gicht sind zwischen einem und vier Prozent der Bevölkerung betroffen. Die häufigste entzündliche Gelenkserkrankung mit autoimmuner Ursache ist die Rheumatoide Arthritis, unter der etwas weniger als ein Prozent der Bevölkerung weltweit leidet und die üblicherweise mehrere Gelenke betrifft.
Osteoarthritis, im deutschen Sprachraum besser als Arthrose bekannt, ist die häufigste Form von schmerzhaften Gelenksproblemen. Diese komplexe Erkrankung ist charakterisiert durch einen übermäßigen Verschleiß der Gelenke, bei der mechanischer Schmerz mit Entzündungs- und/oder neuropathischem Schmerz gekoppelt sein kann. Immerhin 20 Prozent aller chronischen Schmerzen weltweit gehen auf das Konto von Arthrosen. Zehn bis 15 Prozent der Gesamtbevölkerung sind davon betroffen, und die Prävalenz für diese Krankheit steigt klar mit dem Alter: Bei 40 Prozent der Frauen und 25 Prozent der Männer zwischen 60 und 70 Jahren wird Arthrose diagnostiziert. Sie ist die häufigste Erkrankung des Bewegungsapparats bei älteren Menschen und sorgt in dieser Gruppe öfter für Behinderung als jede andere Erkrankung. Nicht bei allen Patientinnen und Patienten, bei denen sich die Krankheit auf dem Röntgenbild nachweisen lässt, treten Symptome wie Gelenkschmerzen oder Steifheit auf. Bei zehn bis 15 Prozent der Bevölkerung weltweit ist dies jedoch der Fall. Knie-, Hand- und Hüftgelenke sind am häufigsten in Mitleidenschaft gezogen.
Arthrose ist mehr als eine Gelenkskrankheit
Lange wurden Arthroseschmerzen vernachlässigt und die dahinter liegenden Mechanismen und Therapiemöglichkeiten falsch eingeschätzt. „Inzwischen hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Arthrosen mehr sind als eine Gelenkskrankheit und dabei Fettleibigkeit, metabolisches Syndrom und kardiovaskuläre Erkrankungen auf komplexe Weise zusammenspielen“, berichtet Prof. Morlion. Der gemeinsame Nenner dieser Erkrankungen sind hormonähnliche Botenstoffe, etwa Adipokine, Myokine und Zytokine, die von Gelenksgewebe, Muskeln und Fett in das Blut abgegeben werden und Entzündungsprozesse und Knorpeldegeneration begünstigen. „Es gilt nach wie vor eine Herausforderung, Arthrose gelenkserhaltend zu behandeln. Vor kurzem wurde ein entscheidender Schritt unternommen und die verschiedenen Erscheinungsbilder von Arthrose beschrieben. Die Osteoarthritis Research Society International (OARSI) hat außerdem Richtlinien für die nichtoperative Behandlung veröffentlicht. Das Neuartige daran ist, dass sie unterschiedliche Empfehlungen je nach klinischer Subkategorie enthalten, etwa ob bei einer Knie-Arthrose Begleiterkrankungen vorliegen oder nicht“, erklärt Prof. Morlion. Die Schlüsselbehandlungen, die aber für alle Patienten und Patientinnen passend sind, umfassen Gymnastik und Wassergymnastik, Gewichtskontrolle, Krafttraining und Schulungen.
Medikamente Mechanismus-basiert einsetzten
Ziel muss bei Gelenkschmerzen unterschiedlichster Ursache, da sind die Experten einig, die Vermeidung einer Schmerzchronifizerung sein. Das Risiko dafür ist hoch: Bei Arthrose etwa suchen viele Patienten erst nach beträchtlicher Zeit ärztliche Hilfe. 66 Prozent versuchen mit nicht verschreibungspflichtigen Nahrungsmittelzusätzen und Medikamenten eine Besserung herbeizuführen, 41 Prozent der Patienten haben zumindest ein Jahr vor der Diagnose bereits Gelenksschmerzen.
So unterschiedlich die Ursachen und Manifestationen von Gelenkschmerzen, so breit ist auch die Palette der verfügbaren Therapien. Wärme- und Kälteanwendung, Elektrotherapien, Bewegungsstrategien, Krafttraining oder Gewichtsverlust gehören zu den wichtigen nichtmedikamentösen Behandlungsansätzen. Was die medikamentöse Therapie von Gelenkschmerzen betrifft, setzt ich zunehmend ein neuer Ansatz durch – nämlich eine an den Mechanismen der jeweiligen schmerzhaften Manifestation orientierte Auswahl der Substanzen. Herkömmlicher Weise hatte man auch bei Gelenksschmerzen die Therapie in Anlehnung an das WHO-Stufenschema an der Schmerzstärke orientiert – mit Nicht-Opioid-Analgetika und entzündungshemmenden Medikamenten (NSAR) bei milden, schwach wirksamen Opioiden bei mittelstarken und stark wirksamen Opioiden bei starken Schmerzen.
„Neuerdings setzt sich aber immer mehr der Ansatz durch, die Wahl der Therapie am Mechanismus, der den jeweiligen Beschwerden zugrunde liegt, sowie am Target des jeweiligen Medikaments zu orientieren“, berichtet Prof. Morlion. Für Gelenkschmerzen bedeutet das, dass nozizeptive entzündliche Schmerzen zum Beispiel in der Regel mit entzündungshemmenden Substanzen wie NSAR oder Steroiden behandelt werden sollten, nicht-entzündliche nozizeptive Schmerzen mit Opioid- und Nichtopioid-Analgetika, neuropathische Schmerzen mit Antidepressiva oder Antikonvulsiva, oder verschiedene rheumatische Erkrankungsformen mit monoklonalen Antikörpern. „Das ist ein Fortschritt, weil damit näher an den Bedürfnissen des Patienten therapiert werden kann als mit den herkömmlichen Eskalationsstrategien von schwächeren zu stärkeren Medikamenten.“
Unterbehandlung verbreitet
Dass in vielen Fällen bei Patienten mit Gelenkschmerzen die verfügbaren medikamentösen schmerztherapeutischen Optionen nicht ausgeschöpft werden, hängt unter anderem mit der Sorgen über unerwünschte Wirkungen – insbesondere bei älteren Patientinnen und Patienten. „Doch es gab in jüngerer Zeit eine Reihe von Verbesserungen: Neue Opioide können beispielsweise nachhaltige Erfolge erzielen bei geringeren gastrointestinale oder kognitiven Beeinträchtigungen und einem geringeren Abhängigkeitsrisiko“, unterstreicht Prof. Morlion. Es hat sich gezeigt, dass sich durch eine lokale Verabreichung von Schmerzmitteln Nebenwirkungen reduziert werden können. Erst jüngst veröffentliche Verfahren über Antikörper, die Nervenwachstumsfaktoren blockieren, zeigen auch das Potenzial von biologischen Therapien auch bei Arthrose: Sie zielen auf periphere Schmerzmechanismen und dringen kaum in das Zentralnervensystem. Damit gehören Nebenwirkungen wie Schläfrigkeit oder Übelkeit der Vergangenheit an. Prof. Morlion fordert: „Schmerzen sollten jedenfalls in einem früheren Stadium behandelt werden, weil wir jetzt auch schneller die Ursache herausfinden können.“
European Year Against Pain
„Mit unserer regelmäßigen Informationsoffensive EYAP, die mit der International Association for the Study of Pain IASP koordiniert ist, rücken wir jedes Jahr eine spezielle Schmerzform oder ein spezielles Versorgungsproblem in den Mittelpunkt“, so EFIC Präsident Wells. „Es geht uns nicht nur darum, das Gesundheitsproblem Schmerz in all seinen Facetten und Konsequenzen aufzuzeigen, Schmerzpatienten zu unterstützen und die breite Öffentlichkeit zu sensibilisieren. Sondern es ist auch wesentlich, bei politischen Entscheidungsträgern Bewusstsein dafür zu schaffen, welche Herausforderungen chronische Schmerzen für die Gesundheitssysteme bedeuten, und das hier eine Priorität gesetzt werden muss.“
Literature: MacDonald KV et al, Osteoarthrits Cartilage 2014; Supplement (22): S208; ####
Source: Europäische Schmerzföderation
20.01.2016