Hirnforschung

Gehirngewebe aus der Versuchsschale

Das komplexeste Organ des Menschen ist sein Gehirn. Aufgrund dieser Komplexität und aus ethischen Gründen ist es für wissenschaftliche Untersuchungen schlecht zugänglich – beispielsweise zur Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen wie Parkinson. Wissenschaftlern des Luxembourg Centre for Systems Biomedicine (LCSB) der Universität Luxemburg ist es jetzt ausgehend von menschlichen Stammzellen aus Hautproben gelungen, kleine, dreidimensionale hirnartige Kulturen zu erzeugen, die sich sehr ähnlich wie das menschliche Mittelhirn verhalten.

Wissenschaftlern der Universität Luxemburg ist es gelungen, ausgehend von...
Wissenschaftlern der Universität Luxemburg ist es gelungen, ausgehend von menschlichen Stammzellen aus Hautproben, dreidimensionale hirnartige Kulturen zu erzeugen.
Quelle: Universität Luxemburg/ScienceRelations

In den Versuchsschalen der Forscher bilden sich unterschiedliche Zelltypen, die sich miteinander vernetzen, Signale austauschen und typische Stoffwechselprodukte des aktiven Gehirns herstellen. „Unsere Zellkulturen öffnen der Hirnforschung neue Wege“, sagt Prof. Dr. Jens Schwamborn, in dessen LCSB-Forschungsgruppe Developmental & Cellular Biology die Forschungsarbeiten durchgeführt wurden: „Wir können an ihnen sehr gut untersuchen, was die Ursachen von Parkinson sind und wie sich die Krankheit möglicherweise wirksam behandeln lässt.“ Seine Ergebnisse veröffentlicht das Team heute in dem renommierten Fachjournal „Stem Cell Reports“ (DOI: 10.1016/j.stemcr.2017.03.010).

Für Parkinson-Forscher ist das menschliche Mittelhirn von besonderem Interesse: Es ist der Sitz einer Gewebestruktur, die Mediziner als Substantia nigra bezeichnen. Hier produzieren Nervenzellen – die dopaminergen Neuronen – den Botenstoff Dopamin. Dopamin ist für reibungslose Bewegungsabläufe erforderlich. Sterben die dopaminergen Neuronen ab, kommt es bei den betroffenen Menschen zu Zittern und Muskelsteifigkeit, den typischen Symptomen der Parkinson-Krankheit. Forscher können die Zellen der Substantia nigra aus ethischen Gründen nicht zur Untersuchung dem Gehirn entnehmen. Weltweit arbeiten deshalb Forschergruppen daran, dreidimensionale Strukturen des Mittelhirns in Versuchsschalen zu züchten. So auch das LCSB-Team um den Stammzellforscher Jens Schwamborn.

Die LCSB-Wissenschaftler haben dabei mit so genannten induzierten pluripotenten Stammzellen gearbeitet, also Stammzellen, die zwar keinen kompletten Organismus bilden, aber in alle Zelltypen des menschlichen Körpers umgewandt werden können. Die Prozeduren, die für die Umwandlung der Stammzellen in Gehirnzellen nötig sind, hat Anna Monzel im Rahmen ihrer Doktorarbeit entwickelt, die sie in Schwamborns Gruppe anfertigt: „Ich musste einen speziellen und genau definierten Cocktail an Wachstumsstoffen und ein bestimmtes Behandlungsverfahren für die Stammzellen entwickeln, damit sie sich in die gewünschte Richtung ausdifferenzieren“, beschreibt Monzel ihr Vorgehen. Dabei konnte sie auf umfangreiche Vorarbeiten zurückgreifen, die Schwamborns Team in den vergangenen Jahren geleistet hat. Anschließend vermehrten sich die pluripotenten Stammzellen in Versuchsgefäßen und breiteten sich auf einer dreidimensionalen Stützstruktur aus – gewebeartige Zellkulturen entstanden.

„Unsere anschließende Untersuchung der künstlichen Gewebeproben ergab, dass sich verschiedene Zelltypen herausdifferenziert haben, wie sie charakteristisch für das Mittelhirn sind“, sagt Jens Schwamborn: „Die Zellen können Signale weiterleiten und verarbeiten. Auch dopaminerge Zellen konnten wir nachweisen – so wie im Mittelhirn.“ Diese Tatsache macht die Ergebnisse der LCSB-Wissenschaftler ausgesprochen interessant für Parkinson-Forscher weltweit, wie Schwamborn betont: „An unseren neuen Zellkulturen können wir die Mechanismen, die zu Parkinson führen, viel besser untersuchen, als das bisher möglich war. Wir können testen, welche Wirkung Umwelteinflüsse wie beispielsweise Schadstoffe auf die Entstehung der Krankheit haben, ob es neue Wirkstoffe gibt, die die Symptome von Parkinson möglicherweise lindern – oder ob sie die Krankheit sogar ursächlich heilen. Solche Untersuchungen werden wir als nächstes durchführen.“

Die Entwicklung der gehirnähnlichen Gewebekulturen bietet aber nicht nur Raum für neue Forschungsansätze. Sie kann auch helfen, die Zahl von Tierversuchen in der Gehirnforschung zu reduzieren: Die Zellkulturen in den Versuchsschalen sind menschlichen Ursprungs und ähneln deshalb in einigen Eigenschaften menschlichen Gehirnen mehr als dies bei Gehirnen von Versuchstieren wie etwa Mäusen oder Ratten der Fall ist. An ihnen lassen sich die Strukturen menschlicher Gehirne und ihre Funktionsweise deshalb anders abbilden, als das bisher mit Tieren möglich war. „Außerdem stecken in unserem Ansatz auch interessante wirtschaftliche Chancen“, erklärt Jens Schwamborn: „Die Herstellung der Gewebekulturen ist sehr aufwändig. Wir werden im Rahmen unserer Ausgründung Braingineering Technologies S.a.r.l. Technologien entwickeln, mit denen wir die Kulturen auch anderen Laboren oder der Pharmaindustrie für ihre Forschung gegen Entgelt zur Verfügung stellen.“


Quelle: Universität Luxemburg

18.04.2017

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