Pädiatrie

Kindesmisshandlung: Typische Verletzungsmuster erkennen

Der bildgebenden Diagnostik kommt eine große Bedeutung zu, wenn der Verdacht auf eine körperliche Misshandlung bei Kindern und Jugendlichen besteht. Kenntnisse über die spezifischen Verletzungsmuster sind Grundlage für eine akkurate Befunderstellung und spielen eine wichtige Rolle beim Nachweis oder Ausschluss einer Misshandlung. Dr. Birgit Kammer, Leiterin der Pädiatrischen Radiologie des Dr. von Haunerschen Kinderspitals, München, spricht im Interview über die Aufgabe der Radiologie und den Umgang mit den Betroffenen.

Metaphysäre Kantenabsprengung
oder Korbhenkelfraktur.
Metaphysäre Kantenabsprengung oder Korbhenkelfraktur.

Welche Rolle spielt die Radiologie beim Thema Kindesmisshandlung?

Unter Kindesmisshandlung versteht man die seelische, körperliche und sexuelle Gewalt sowie die Vernachlässigung. Eine Erhebung bei uns im Haus ergab, dass sich bei 15 Patienten von 10.000 vorgestellten Fällen der Verdacht auf Kindesmisshandlung bestätigte. Die Aufgabe der (Kinder)Radiologie ist es in erster Linie die Folgen der körperlichen Gewalteinwirkungen zu erkennen und zu dokumentieren. Unsere Rolle besteht darin, Frakturen zu erkennen und mit Hilfe bildgebender Verfahren den Nachweis auf abdominelle Verletzungen durch Schläge in den Bauch zu führen, und ganz wichtig, nach einem Schädel-Hirn-Trauma zu schauen.

Bei welchen klinischen Befunden läuten bei Ihnen die Alarmglocken? Wie stellt sich Kindesmisshandlung physiologisch dar?

Generell sind im Kindesalter distale Unterarm-, Ellbogen-, Sprunggelenks- oder auch Klavikulafrakturen häufig. Alarmiert sind wir, wenn „ungewöhnliche“ auf eine Kindesmisshandlung hochverdächtige Frakturen diagnostiziert werden wie eine Metaphysen- bzw. Korbhenkel-Fraktur, die in der Nähe der Wachstumszone der Röhrenknochen auftritt. Auch verdächtig sind Sternum-Frakturen, Frakturen des Schulterblattes und Beckenfrakturen. Bei allen Kindern unter 18 Monaten sind zudem diaphysären Spiralfrakturen der langen Röhrenknochen ungewöhnlich. Auch sollten die Alarmglocken läuten, wenn sich unterschiedlich alte Frakturen sowie Rippenfrakturen zeigen. Letztere kommen bei Kindern üblicherweise sehr selten vor.

Wie verläuft die Untersuchung bei Verdacht auf Kindesmisshandlung?

Als Radiologen sind wir in der Pflicht, Verletzungsmuster erkennen zu können, die auf Kindesmisshandlungen hindeuten. Kinder können oft nicht genau oder gar nicht angeben, wo der Schmerz sitzt und daher hängt es von dem Kinderchirurgen oder Pädiater ab, festzulegen, welche konventionellen Aufnahmen durchgeführt werden, um Knochenbrüche zu diagnostizieren. Bei einem neurologisch auffälligen Kind können und müssen Verletzungsmuster mit der Notfall-CT diagnostiziert werden. Dem verantwortlichen Arzt muss bewusst sein, dass Kinder trotz schwerer neurologischer Symptome nach einem Schütteltrauma meist überhaupt keine äußeren Verletzungen aufweisen. Typische Symptome dieser Sorte Trauma können bei Kindern unter 2 Jahren Krampfanfälle, Atemstörungen oder eine gespannte Fontanelle sein. Ist die Fontanelle noch offen, kann der CT eine Schädelsonographie vorgeschaltet werden, um Auffälligkeiten nachzugehen. Zeitnah und im weiteren Verlauf ist eine MRT indiziert. Liegt das Kind auf der Intensivstation entwickelt und ein schweres Hirnödem, ist es manchmal sogar notwendig, die Schädel-CT zu wiederholen. Generell gilt: Die Bildgebung folgt dem klinischen Zustand des Kindes.

Welche Schritte leiten Sie ein, wenn Sie eine Kindesmisshandlung annehmen?

Im Verdachtsfall laufen die Schritte standardisiert ab: wir haben bei uns im Haus eine „Kinderschutztruppe“ eingerichtet, die eingeschaltet wird und die notwendigen Schritte einleitet. Diese Mitarbeiter sind spezifisch geschult, zum Beispiel durch Kurse zur „Kindswohlgefährdung“. Erhärtet sich der Verdacht, wird in manchen Fällen das Jugendamt eingeschaltet. Ist möglicherweise das Leben des Kindes gefährdet, werden die Rechtsmedizin und die Polizei informiert. Selbstverständlich müssen wir sehr vorsichtig agieren. Gelegentlich werden Kinder auch zu ihrem eigenen Schutz stationär bei uns aufgenommen, um durch die Befragung der Eltern mehr über die Ursachen zu erfahren. Auf diese Weise gleichen wir ab, ob die Anamnese passt oder die Eltern sich möglicherweise in Widersprüche verwickeln.

Es ist Aufgabe der Kinderärzte oder -chirurgen, eine vollständige körperliche Untersuchung durchzuführen und das unter Zeugen. Wichtig ist, eine ruhige Atmosphäre zu schaffen und Vertrauen aufzubauen. Bei der Untersuchung werden die Begleitfaktoren schriftlich und fotografisch dokumentiert: Größe, Gewicht, Kopfumfang, der Pflegezustand, die Beurteilung der psychomotorischen Entwicklung. Dazu gibt es Vorgaben, damit die Angaben auch vor Gericht Bestand haben.

Bereitet der Umgang mit der Familie Probleme?

Der Umgang ist schon eine gewisse Herausforderung, denn trotz aller Professionalität ist man bei jedem Fall auch gefühlsmäßig betroffen. Allerdings sollten wir uns davor hüten, den Eltern mit Vorurteilen zu begegnen, zumal wir gar nicht wissen, wer eigentlich misshandelt hat. Als Ärzte fällen wir keine Urteile, sondern forschen nach und behandeln.


PROFIL:
Dr. Birgit Kammer studierte Humanmedizin an der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU). Im Rahmen der Facharztausbildung zur Radiologin an der LMU forschte sie unter anderem an der Harvard Medical School in Boston. Nach Abschluss der Facharztausbildung im Jahr 1995 arbeitete sie als Funktionsoberärztin der Röntgenabteilung der Chirurgischen Klinik mit dem Schwerpunkt MRT und wechselte im Juni 1997 als Oberärztin in die Pädiatrische Radiologie des Dr. von Haunerschen Kinderspitals. Seit September 2013 leitet sie die dortige Kinderradiologie. Ein besonderes Anliegen ist ihr die Fort- und Weiterbildung der Radiologen in der Kinderradiologie in der BRG und DRG.

02.10.2015

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