Systemmedizin

„IT ist eine Ressource wie Wasser oder Strom!“

Systemmedizin, also die Implementierung von Systembiologie in medizinische Konzepte, Forschung und klinische Praxis, macht sich vor allem den technischen Fortschritt in der Informationstechnologie zu nutze. Die damit einhergehenden neuen Möglichkeiten, Daten zu nutzen, beeinflussen Medizin und Gesellschaft, glaubt Prof. Dr. Heyo Kroemer, Dekan der Medizinischen Fakultät, Georg-August-Universität, Göttingen: „Die Zeit, in der wir leben, ist eine Zeit in der sich viele Dinge fundamental ändern. Die neuen Nutzungsmöglichkeiten der Daten können eine neue Ära in der Medizin einleiten.“

Interview: Sascha Keutel

Professor Dr Heyo Kroemer, Dekan der Universitätsmedizin Göttingen.
Professor Dr Heyo Kroemer, Dekan der Universitätsmedizin Göttingen.
Quelle: Professor Dr Heyo Kroemer

EH: Was bedeutet die Implementierung systemischer biologischer Daten in medizinische Konzepte, Forschung und Praxis genau?

Man hat heute bedingt durch neue analytische Technologien die Möglichkeit, sehr komplexe Datensätze zu Krankheiten zu erheben und diese dadurch deutlich besser zu verstehen als früher. So können wir das ganze Genom für überschaubare Geldmengen sequenzieren lassen und daraus genetische Varianten identifizieren, die krankheitsrelevant sind oder sein können. Ebenso können wir uns die gesamte Epigenetik, also alle Modifikationen der DNA-Strukturen, anschauen, oder mit der Proteomtechnologie die Gesamtheit aller Proteine betrachten. Wenn wir solche neuen komplexen analytischen Verfahren einsetzen und sie mit der entsprechenden Bioinformatik kombinieren, dann sind wir in der Lage, Krankheiten und Krankheitsprozesse so umfassend zu verstehen, dass wir am Ende des Tages besser eingreifen können als in der Vergangenheit.

Was ist die treibende Kraft hinter der Systemmedizin?

Viele Kollegen meinen, dass die neue Technologie  der Treiber ist, ich sehe aber das anders. Es ist aus meiner Sicht vor allem der demografische Wandel, der uns zum Handeln zwingt. Die starke Zunahme älterer Menschen, die naturgemäß häufiger von Krankheiten heimgesucht werden in Kombination mit einem massiven medizinischen Fortschritt, erzeugen einen hohen Druck in Richtung bezahlbarer und anwendbarer Lösungen.

Wir haben zukünftig einen Dreiklang aus einem hohen Anteil von Leistungsnehmern, einer geringeren Zahl an Leistungserbringern sowie einer enormen Auswahl an Leistungsmöglichkeiten durch den medizinischen Fortschritt. Dieser Dreiklang stellt ein solidarisch finanziertes Versorgungssystem vor eine fast unlösbare Aufgabe - es sei denn, man bedient sich neuer Technologien. Eine davon ist der systemmedizinische Ansatz, der dazu führen wird, dass Ärzte individuelle Krankheitsverläufe besser werden vorhersagen können. Medizin wird dadurch wesentlich präziser und spezifischer.

Das erklärt auch, warum der ständige Austausch zwischen den Klinikern und ITlern, Physikern oder Mathematikern so wichtig ist.  

Genau. Im systemmedizinischen Ansatz müssen mehrere Berufsgruppen zusammen arbeiten: betreuende Mediziner, Spezialisten die analytische Verfahren wie etwa Proteomanalysen durchführen sowie Fachleute, die zwischen Ärzten und Analytikern stehen und das ganze aus- und berechnen, im weiteren Sinne also Bioinformatiker. Für den Erfolg der Systemmedizin ist die Zusammenarbeit dieser Gruppen unabdingbar. Darüber hinaus werden Experten  gebraucht, die sich mit den Problemen der Medizin beschäftigen die innerhalb der Medizin nicht lösbar sind, also etwa rechtlichen und ethischen  Fragestellungen großer Datensammlungen.

Die Systemmedizin hat also eine gesellschaftliche Bedeutung?

Sie hat potentiell eine ganz erhebliche gesellschaftliche Bedeutung. Zum einen ermöglicht sie, weite Teile der alternden Bevölkerung wirklich am medizinischen Fortschritt teilhaben zu lassen. Zum anderen erleben wir bereits jetzt  wie Big Data das Potenzial haben, unser tägliches Leben zu verändern. Ein Beispiel ist das zur Verfügung stellen großer persönlicher Datenmengen, z.B. mit Hilfe von Smartphones.

Es gibt Beispiele aus den USA, wo die Integration dieser Daten in persönlichen Patientenakten schon stattfindet. Dieser Ansatz erlaubt es, Menschen 24 Stunden, sieben Tage die Woche gesundheitlich zu überwachen und die Informationen auszuwerten. Diese Interaktion von Patienten mit Big Data und den Folgen für Diagnostik- und Therapieformen hat daher das Potenzial,  Gesundheitssystem grundsätzlich zu verändern.

Bringen wir es auf den Punkt: Was verstehen Sie unter Big Data?

Datensätze, die entweder so groß oder so komplex sind, dass die traditionellen Wege, sie zu analysieren, nicht adäquat sind. Doch es geht nicht nur um Größe und Menge, sondern um deren Komplexität. Aus meiner Sicht  teilt sich Big Data im Bereich der Gesundheit in drei große Blöcke:  

1. Konventionelle Big Data, also Informationen aus Genom- oder Transkriptionsanalysen
2. Ungenutzte Big Data, also Informationen, die im Bereich der normalen Krankenversorgung gespeichert werden
3. Private Big Data, die etwa in Smartphones generiert werden und ein gesundheitliches Monitoring erlauben

Aus meiner Sicht ist der ganze Bereich Big Data im Gesundheitswesen eine potenzielle Forschungs- und damit Wissensressource, die wir bisher nicht nutzen und die wir unbedingt anzapfen müssen.

Sie sprechen die potenzielle Forschungs- und damit Wissensressource an. Gibt es auf diesem Gebiet eine europäische Zusammenarbeit?

Es gibt weltweit viele Überlegungen zu Harmonisierungen.  In den USA hat der Staat massive Anreize gesetzt und ganz erheblich in elektronische Patientenakten investiert und ist jetzt dabei, Interoperabilität herzustellen. Es wird international viel über Standards diskutiert, leider sind wir in Deutschland da sehr zurück. In unserer Gesundheits-IT sowohl bei Forschung als auch bei der Versorgung gibt es kaum ortsübergreifende Verbünde, die kooperieren.  Wir hoffen, dass sich das notwendige Bewusstsein dafür ändert, denn ich bin der festen Überzeugung, dass wir ohne diese Technologie den demografischen Wandel im Gesundheitssystem auf keinen Fall bewältigen können.

Was muss sich ändern?

Die Vorstellung von Informationstechnologie. Sie ist  eine Grundressource wie Wasser und Strom. Also nichts, was Sie in einzelnen Projekten beantragen müssen. IT muss überall verfügbar sein und es muss den Willen geben, die bislang nicht genutzten Ressourcen auszunutzen bzw.  ausnutzen zu dürfen.

Welche Rolle spielen dabei Patientenrechte?

Das ist ein ganz wesentlicher Punkt. Wie vorhin erwähnt gibt es in der modernen Medizin rund um Big Data eine ganze Reihe von Problemen, die diese Medizin vital betreffen, aber von dieser nicht selbst gelöst werden können - also Fragestellungen von Recht, von Ethik und von Teilhabe. Ich halte es für dringend nötig, dass man sich mit solchen Fragestellungen auseinandersetzt. Wenn ich beispielsweise als Patient meine Daten über das Smartphone in ein bestimmtes System einspiele, wie eine elektronische Krankenakte an einem Krankenhaus, dann muss die Frage geklärt sein, wem diese Daten eigentlich gehören.

Sie haben also keine Ängste davor, dass wir uns zum ‚gläsernen Menschen‘ entwickeln?

Wir sollten nicht angstgetrieben an das Thema herangehen, sondern eine vernünftige, sachliche Risikoabwägung machen: wir sehen das Potenzial, aber auch Gefahren und negative Nutzungsmöglichkeiten, die man sich sorgfältig anschauen muss. Am Ende des Tages ist es ein Abwägungsprozess. Persönlich glaube ich, dass der potenzielle Vorteil einer Nutzung von Big Data, die potenziellen Nachteile deutlich überwiegen wird.


PROFIL:
Professor Dr. Heyo Kroemer studierte Pharmazie an der Technischen Universität Braunschweig. 1992 erhielt er seine Habilitation (Habilitation) in der Pharmazie und Toxikologie an der Eberhard Karls Universität Tübingen. Von 1998-2012 war er Professor für Pharmakologie und Toxikologie an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, von 2000-2012 Dekan der Fakultät für Medizin an der Universitätsklinik Greifswald. Derzeit ist Kroemer Präsident für Forschung und Lehre sowie Vorsitzender des Vorstands an der Universitätsmedizin Göttingen.

18.04.2016

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