Schmerzversorgung 2030
Was kann die Welt von Münster lernen?
„Wer künftig den Anspruch hat, ohne Schmerzen im Krankenhaus liegen zu wollen, kommt an Münster nicht mehr vorbei“. Was Münsters Oberbürgermeister Markus Lewe im November 2012 prognostizierte, gilt inzwischen auch für alle anderen Bereiche der medizinischen Versorgung von Münsters Schmerzpatienten – vom Hausarzt über das Altenheim bis hin zum Hospiz. Fünf Jahre hat das Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster in der Westfalenmetropole evaluiert und optimiert, gefragt und geschult, berechnet und beraten. Der Lohn: Die Weltgesundheitsorganisation WHO wird das Projekt im September als Best Practice Modell auszeichnen – eine seltene Ehre, die in ganz Europa nur sechs Projekten zu Teil wird.
„Als wir hier in Münster anfingen, standen wir vor den gleichen Problemen im Schmerzmanagement wie überall in Deutschland und der ganzen Welt“, so der Leiter des Aktionsbündnisses, Professor Jürgen Osterbrink. Neben dem Leiden der Patienten seien auch die gesundheitsökonomischen Folgen bestehender Defizite gewaltig: „Rechnet man Arbeitsausfälle und Frühberentung mit ein, verursachen chronische, nicht tumorbedingte Schmerzen jährlich alleine in Deutschland Kosten von rund 38 Milliarden Euro.“ Eine optimale Basisversorgung, zügige, leitliniengerechte Therapie, Kooperation der unterschiedlichen Disziplinen sowie eine aktive Mitarbeit der Patienten seien wichtige Stellschrauben zur Optimierung der Schmerztherapie. „So etwas in einer ganzen Stadt flächendeckend umzusetzen geht nur gemeinsam mit vielen Kooperationspartnern, die wir zunächst für unsere Sache gewinnen mussten“, erinnert sich Osterbrink an die Anfänge zurück.
Fünf Jahre später habe sich vieles in Münster verändert. Professor Osterbrink zählt nur die wichtigsten Punkte auf: „Alle örtlichen Krankenhäuser haben das Zertifikat ‚Qualifizierte Schmerztherapie' erlangt. Die Zusammenarbeit zwischen Ärzten und Pflegenden hat sich flächendeckend verbessert. 13 Altenheime haben ein systematisches Schmerzmanagement eingeführt. Es wurden inzwischen über 100 Pflegekräfte zu Pain Nurses weitergebildet.“ Weiterhin gebe es spezielle Fortbildungsangebote für Hausärzte und es sei ein effektives Netzwerk zwischen Allgemeinmedizinern, Fachärzten, Krankenhäusern, Apothekern und Pflegepersonal geschaffen worden. Zudem seien die Palliativversorgung und die Hospizarbeit noch stärker in den Mittelpunkt gerückt worden.
„Wir haben in allen Segmenten der Versorgung von Schmerzpatienten große Fortschritte erzielt“. Besonders aufmerksam blicke die Fachwelt jedoch auf die Forschungsergebnisse aus den Altenheimen“, so der Experte weiter, der inzwischen auf Fachkongressen in der ganzen Welt über das Modellprojekt aus Münster berichtet. So sei bei der Ersterhebung festgestellt worden, dass rund 50 Prozent der Altenheimbewohner an chronischen Schmerzen litten. „Ein Ergebnis, das in der Forschung so noch nicht bekannt war und national wie auch international hohe Aufmerksamkeit erregte.“
„Gerade bei alten Menschen mit Demenz ist oft viel Erfahrung erforderlich, um herauszufinden, ob sie unter Schmerzen leiden“, berichtet Annegret Frede. Denn solche Patienten könnten sich meist nicht mehr eindeutig artikulieren, so die Pflegedienstleiterin des Cohaus-Vendt-Stiftes. „Wir haben hier bei der Befragung im Rahmen der Studie deshalb mit speziellen Erhebungsinstrumenten und Fragetechniken gearbeitet, um auch diese Hürde zu nehmen“, erläutert Prof. Osterbrink. Zwei Jahre nach der Ersterhebung waren deutliche Erfolge messbar: Es gibt beispielsweise inzwischen für rund 80 Prozent der Bewohner konkrete Anweisungen für die Pflegenden, wie Schmerzen zu behandeln sind. „Zu Beginn waren solche wichtigen Hilfestellungen nur für ein Viertel der Bewohner vorhanden“, blickt Osterbrink zurück. Das sei nur einer von diversen gravierenden Fortschritten, die durch die gemeinsame Arbeit erzielt worden seien.
Die professionelle Arbeit ist inzwischen auch bundesweit Vorbild für die Schulung von Pflegepersonal im Umgang mit geriatrischen Demenzpatienten. In Schulungsvideos wird Fachkolleginnen und -kollegen erklärt, wie man Schmerzen bei geriatrischen Patienten erkennt und in der Pflege vermeidet. „Wir sind unseren Kooperationspartnern hier in Münster sehr dankbar, dass sie sich gemeinsam mit uns auf den Weg gemacht haben, das Erforschte und Gelernte bundes- und weltweit an Kolleginnen und Kollegen weiter zu geben“, bedankt sich Projektleiter Osterbrink bei seinen Mitstreitern. Auch die Unterstützung eines so ambitionierten und völlig ergebnisoffenen Versorgungsforschungsprojektes durch die Firma Mundipharma verdiene besondere Anerkennung.
Die gemeinsame Arbeit in Münster hat auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) so sehr beeindruckt, dass sie das Projekt besonders würdigt. Im September soll das „Aktionsbündnis Schmerzfreie Stadt Münster“ zum sogenannten Best Practice Projekt erhoben werden – als eines von nur sechs Beispielen aus ganz Europa. „Wir gehen deshalb davon aus, dass spätestens im Jahr 2030 die Ergebnisse und Erfahrungen aus Münster weltweit Eingang in das Schmerzmanagement gefunden haben werden“, prognostiziert Prof. Osterbrink. Denn es sei weltweit bisher nie gelungen, so tiefe Einblicke in die Gesundheitsversorgung einer Kommune zu bekommen und anschließend so gravierende Verbesserungen zu erzielen.
„Noch ein Aspekt, auf den Münster sehr stolz sein kann“, freut sich Oberbürgermeister Lewe über das Lob aus der Fachwelt. Was vor fünf Jahren als ferne Utopie begonnen habe, sei Dank der guten Zusammenarbeit von rund 120 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in den teilnehmenden Einrichtungen und dem 18-köpfigen Projektteam Wirklichkeit geworden. „Ich bin sicher: Wenn wir so weiter machen, wird die Gesundheitsstadt Münster auch in Sachen Schmerzmanagement lebenswerteste Stadt der Welt“.
Weitere Informationen zum Projekt sind unter www.schmerzfreie-stadt.de abrufbar.
06.08.2015